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Dich schlafen sehen

Dich schlafen sehen

Titel: Dich schlafen sehen
Autoren: A Brasme
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frustrierte. Seine Arbeit, seine Interessen, seine
Verpflichtungen
, wie er es nannte. Aus diesem Grund habe ich heute nur flüchtige Erinnerungen an ihn, verblasste Bilder vom abwesenden Vater, vom vergesslichen Vater, vom Vater, der
Wichtigeres zu tun hat
. Und doch habe ich, so weit ich mich erinnere, nicht darunter gelitten, dass er so selten da war. Vielleicht war es mir irgendwann auch egal. Aus Gewohnheit. Alles, was mir zu ihm einfällt, das einzige Bild, das mir in den Sinn kommt, ist diese unendlich hohe Mahagonitür, die Tür zu seinem Arbeitszimmer, zu seinem Exil, dieses »Kein Zutritt«, das mich immer von ihm getrennt hat. Heute ist Papa neben meinem Bruder der Einzige, der mich dann und wann noch im Gefängnis besucht; ich sehe sein aufgedunsenes Gesicht hinter der Scheibe im Besuchsraum, und jedes Mal habe ich das Gefühl, dass wir beide uns immer weniger fremd werden.
    Später kam ich in die Schule. Ich muss fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein. Ich sehe noch die Korridore mit den blauen Wänden vor mir, geschmückt mit plumpen Zeichnungen von Kinderhand. Große Fenster gingen auf einen Hof. Aus diesem Hof drangen das Schreien und Lachen von Kinderstimmen zu mir herauf in die stillen blauen Korridore.
    Ich habe daran eine seltsame, vor allem aber bittere Erinnerung. Ich war eine gute Schülerin, doch häufig unruhig, übermütig und manchmal frech, mit einem Wort, der Störenfried, der den Lehrerinnen verhasst war, der von den anderen fern gehalten und in den hinteren Teil des Klassenzimmers verbannt wurde.
    Eines Tages jedoch kam ein kleines Mädchen, das wie ein blaues Bonbon aussah, und erhellte mein Leben. Sie hieß Vanessa. Ein etwas pummeliges Kind – ich war ein mageres Ding – mit sehr langen, immer tadellos geflochtenen Haaren und einem mit unschuldigen Sommersprossen besprenkelten Puppengesicht, das riesige Vergissmeinnichtaugen belebten – ich selbst ähnelte, schlampig gekleidet, unbekümmert und strubbelig, wie ich war, mehr einem kleinen Jungen.
    Das ist, glaube ich, das erste intakte Bild, das mir von der Vergangenheit geblieben ist. Auf der ganz mit blauen Fliesen und Mosaiken ausgekleideten Toilette traf mich der Blick ihrer großen Augen zum ersten Mal. Ihr Lächeln schlug mich sofort in seinen Bann. Ich war wie vom Blitz getroffen. Ich habe nie richtig verstanden, was das blaue Bonbon bewogen hat, die Freundin des kleinen Monsters zu werden, aber von dem Tag an waren wir unzertrennlich. Und in den wenigen Jahren, die wir zusammen verbrachten, sind wir uns so nahe gekommen, dass wir uns ein Leben ohne die andere nicht mehr vorstellen konnten.
    Ich rief sie jeden Samstagmorgen um sieben Uhr an, was sie immer ganz wütend machte. Mit klopfendem Herzen und zitternder Hand wählte ich die Nummer, dann meldete sich ihre zarte Stimme. Wir sprachen über unsere Träume, unsere Fantasiewelten, wir sangen uns Abzählreime vor, wir lachten, nichts hätte uns zum Schweigen bringen können. Wir hatten uns immer etwas zu sagen, immer etwas zu erzählen, und wenn es nichts mehr zu sagen gab, erfanden wir etwas: Es spielte keine Rolle, denn wir verstanden uns. Sie lud mich zu sich nach Hause ein. Ich erinnere mich an ihr Zimmer, dessen Tapete dieselbe Farbe hatte wie ihre Augen, an das kleine Fenster, das auf die Straße ging, das Bett mit der vergissmeinnichtblauen Decke darauf, den Schrank in der Ecke, die Kinderzeichnungen, die an den Wänden hingen, und den unordentlichen Spielzeughaufen. Das war unsere Welt.
    Es war etwas Besonderes, die Welt mit ihren Augen zu sehen. Meine Träume waren ihre Träume. Manchmal genügte ein Wort, ein Blick, bisweilen schon ein Schweigen, damit wir uns verstanden. Nichts, nicht einmal die Rügen der Erwachsenen, unsere Verschiedenheit und unsere fünf Jahre hätten unserer Freundschaft etwas anhaben können. Die Bilder, die wir uns ausdachten, unsere Ideen, unsere Spiele, unsere Welten waren dieselben. Wir lebten zusammen auf einem fernen und fremden Planeten, weit weg von den anderen, aber wichtig war nur, dass wir nicht mehr allein waren.
    Vanessa ist fast sechs Jahre lang meine beste Freundin geblieben. Sie gab mir ein Gefühl der Geborgenheit, sie war mein Glück, mein Licht. Sie beschützte mich. Sie war die Sonne meiner Kindheit. Ich erinnere mich an ihre beruhigende Gegenwart, an die Stunden, die ich an ihrer Seite verbrachte, an die Abenteuer, die Geschichten, das Flüstern im Dämmerlicht des Nachmittags. Sogar an ihren Geruch, den ich bis heute
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