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Dich schlafen sehen

Dich schlafen sehen

Titel: Dich schlafen sehen
Autoren: A Brasme
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ich...«
    »Ich bin gestern Abend bei ihr vorbeigegangen. Es hat von Bullen gewimmelt. Vor dem Haus war ein Menschenauflauf, ich habe nicht viel gesehen.«
    »Wer kann so etwas getan haben? Also, ich... Es ist wirklich schrecklich.«
    »Charlène, hör auf. Ich weiß Bescheid.«
    Er brauchte nichts hinzuzufügen. Ich auch nicht. Zwischen uns war alles klar. Auch ohne einen Beweis, der mich überführte, und noch ehe ich dazu kam, irgendetwas zuzugeben, wusste Maxime Bescheid.
    Ich schloss die Augen. Das beruhigte mich. Vielleicht hatte sich alles in nichts aufgelöst, wenn ich sie wieder öffnete. Ich konnte Maxime nicht in die Augen sehen. Ich spürte seinen strengen, aber leidenden Blick, der mich anklagte und zugleich um Verzeihung bat. Ich spürte, dass er zitterte, seine ganze Kraft zusammennahm, um sich nicht eine Sekunde seine Erschütterung anmerken zu lassen. Denn ich kannte Maxime, ich wusste, dass er im Grunde noch mehr litt als ich.
    Ich vergaß das Atmen. Ich wusste nicht mehr, wie es ging. Es dauerte einige Zeit, bis die ersten Schluchzer kamen. Und dann verstopften sie plötzlich meine Bronchien, schnürten mir die Kehle und die Brust zusammen. Ich wusste nicht mehr, warum ich weinte. Ich wusste nicht mehr, warum ich schuldig war, noch warum ich getötet hatte.
    Maxime sprach kein Wort mehr und kam auf mich zu. Er sah mich an und besänftigte mein Schluchzen, meine Angst, meinen Zorn und meine Scham, indem er mich in die Arme nahm und ganz fest an sich drückte. Er wartete geduldig, bis ich mich beruhigte, bis ich wieder zu Atem kam, noch Gefangene meiner Tränen.
    »Sag mir, was du jetzt tun willst«, sagte ich schließlich.
    »Ich habe alles versucht, Charlène, alles. Ich kann nicht mehr, ich komme mir hilflos vor, zu feige, zu schwach. Du gehst mir nicht mehr aus dem Kopf. Du ahnst ja nicht, wie sehr ich mir wünschte, dich nicht zu lieben, wie sehr ich es hasse, so machtlos zu sein. Ich kann dich verstehen, aber ich kann dir nicht helfen. Ich werde nichts mehr tun. Ich habe alles getan, um dir zu helfen, das Leben zu lieben. Du warst stärker als ich, oder Sarah war stärker als ich. Ich weiß es nicht mehr. Aber ich kenne dich besser als jeder andere, Charlène. Du bist ein rätselhafter Mensch, du läufst davon, du versteckst dich. Ich würde gern diese Welt mit dir teilen. Aber ich kann nicht. Du hast mich in einer bestimmten Phase deines Lebens gebraucht, jetzt lehnst du meine Hilfe ab. Ich kann jetzt nichts mehr tun. Ich kann nur versuchen, dich zu vergessen, dich aus meinem Leben zu verbannen, deine Entscheidung zu respektieren. Ich akzeptiere sie. Was bleibt mir auch anderes übrig? Du hast dich entschieden. Ich kann dir nur sagen, dass ich dich niemals verraten werde, Charlène. Niemals. Ich werde so tun, als wüsste ich von nichts. Ich werde weiter schweigen. Ich wusste sofort, was passieren würde. Ich habe es begriffen, noch ehe du dir darüber im Klaren warst. Ich glaube, ich wusste, dass alles ein schlimmes Ende nehmen würde, dass du sie umbringen musst, um dich frei zu fühlen. Aber ich werde schweigen. Ich werde so leise aus deinem Leben verschwinden, wie ich gekommen bin. Das ist alles.«
    Ich konnte ihn nicht ansehen. Von Krämpfen geschüttelt, wartete ich, bis die Worte einen Weg aus meiner zugeschnürten Kehle fanden.
    »Dann sag mir, was ich jetzt tun soll«, entfuhr es mir.
    Er fasste mich an den Handgelenken und sah mich lange an, wie um meinen Hass zu beschwichtigen, mir die Wahrheit zu entlocken.
    »Charlène. Sieh mir in die Augen und sag mir, dass du bereust, was du getan hast.«
    Auf einmal hörte mein Schluchzen auf. Ich hielt den Kopf gesenkt, ich wollte nicht, dass er mein Gesicht sah. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Wie sollte ich ihm erklären, dass ich keine Gewissensbisse hatte und dass ich trotz des Schmerzes, des Hasses und der Scham für immer als Siegerin aus einem verhassten Leben hervorgegangen war?

Über das Buch
    Charlène ist dreizehn Jahre alt, als ihr Sarah zum ersten Mal begegnet. Sofort ist Charlène wie gebannt von der Ausstrahlung des Mädchens mit den Bernsteinaugen. Zwischen ihr und Sarah entspinnt sich eine intensive Freundschaft, und bald sind die beiden unzertrennlich. Doch das Glück währt nur einen Sommer lang, denn plötzlich beginnt Sarah, ihre Freundin grausam zu tyrannisieren. Und Charlène, unfähig sich gegen Sarahs Psychospiele zur Wehr zu setzen, muss sich eingestehen, dass sie ihre Würde, ihren Willen und ihre
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