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Dich schlafen sehen

Dich schlafen sehen

Titel: Dich schlafen sehen
Autoren: A Brasme
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Unüberlegtes tun. Ich wollte alle Umstände berücksichtigen, alle Möglichkeiten bis ins Kleinste vorher durchspielen, damit ich keine unliebsamen Überraschungen erlebte, die mich zum Improvisieren zwangen. Alles sollte perfekt sein, methodisch, durchdacht. Wenn mir in meinem Leben eine einzige Sache ohne den kleinsten Fehler gelingen sollte, dann diese.
    Ich handelte nicht aus einem plötzlichen Impuls heraus. Ich hatte alles geplant, alles vorher bedacht, mir alles überlegt. Der Wahnsinn wies mir den Weg, und diesmal hatte ich beschlossen, auf ihn zu hören. Ich lieferte mich ihm mit Leib und Seele aus, damit er mich endlich leben ließ.
    Ich hatte die wichtigste Entscheidung in meinem ganzen Leben getroffen. Natürlich, hätte ich mich dazu durchgerungen, Sarah zu vergessen, wie sie es von mir verlangt hatte, und weiter Maxime geliebt, wäre alles ganz einfach gewesen. Ich hätte das Leben geführt, das er uns beiden zugedacht hatte, ein alltägliches und triviales Leben mit Liebe, Kindern, einem Beruf und so weiter, was man so unter Glück versteht. Aber hätte mich das gerettet? Man entrinnt seinem Wahnsinn nicht, indem man versucht, wie ein normaler Mensch zu handeln. Der Wahnsinn ist stärker: Früher oder später bricht er sich wieder Bahn. Ich habe nachgegeben. Ich habe begriffen, dass die einzige Möglichkeit, ihn zum Schweigen zu bringen, darin bestand, ihm ins Auge zu sehen und alles zu tun, was er befahl. Die Folgen spielten keine Rolle, Hauptsache, ich war von seinen Fesseln befreit.
    Ich wusste durchaus, was ich tat. Ich war mir dessen vollkommen bewusst. Ich wusste, dass es schrecklich und unverzeihlich war, dass es unvorstellbar war, mit sechzehn Jahren ein solches Verbrechen zu begehen. Ich dachte an das Leid und die Demütigung, die ich damit meiner Familie und Maxime zufügen würde, die alles getan hatten, um mir zu helfen, ein normales Leben zu führen. Ich dachte an meine Zukunft, die zwangsläufig auf den Kopf gestellt werden würde, die moralischen Konsequenzen, die Unannehmlichkeiten, die Ängste, die Scham, die Schwere dieser Tat, die mich bis an mein Lebensende verfolgen würde. Ich wusste das alles. Aber ich wusste auch, dass ich nichts daran ändern konnte, dass es stärker war als ich und dass ich nicht dagegen ankämpfen konnte. Und dass das wenige, das ich tun musste, zwar von größter Bedeutung und Tragweite war, aber auch der einzige Ausweg, der mir noch blieb. Ich hatte eine entsetzliche und unerträgliche Entscheidung getroffen. Aber ich war mir dessen bewusst, ich war bei völlig klarem Verstand.
    Ich hatte den gesamten Ablauf, jeden Schritt, den ich zu tun hatte, auswendig gelernt. In dem Monat, der dem ersehnten Abend im September vorausging, war ich ihn Tag für Tag, Nacht für Nacht immer wieder durchgegangen. Ich lebte nur noch dafür, in der Erwartung des allerletzten Augenblicks.
    Die Nacht von Donnerstag, den 7. September, auf Freitag, den 8. September, kam.
    Draußen in den halb leeren Straßen schien eine drückende Schwüle zu herrschen. Die Terrassen der Cafés waren noch voller Menschen, die Fußgängerzonen belebt, die Stadt von Lärm erfüllt, als wollte Paris noch nicht schlafen: die erste unangenehme Überraschung. Vom Fenster meines Zimmers aus blickte ich auf die Straße, die gräulichen Dächer, die Schornsteine. Die Stadt war schön an diesem Abend. Der klare Himmel hatte nichts von einem Septemberhimmel: vom Dämmerlicht überflutet, bald zimtfarben, bald zartrosa, an manchen Stellen kräftig rot und an anderen kräftig leuchtend, oder auch mit einigen versprengten Wolken befrachtet, die irgendwo über einem Dach standen. Mir war, als würde mich von ganz da oben jemand sehen und heimlich beobachten. Dann geschah etwas Seltsames: Zum ersten Mal in meinem Leben betete ich. Auf dem Fensterbrett meines Zimmers sitzend, die geschlossenen Augen voll stiller Tränen, beichtete ich Gott, dass ich bereit war zu töten, und bat ihn um Verzeihung. Auch das hatte ich nicht vorhergesehen.
    Ich wartete, bis die Sonne untergegangen war, denn es sollte ganz dunkel sein. Ich spähte aus dem Fenster, um mich zu vergewissern: Die Straßen waren leer, die Menschen verschwunden. Ich geduldete mich noch ein wenig, wartete, bis ich mich bereit fühlte. Natürlich hatte ich schreckliche Angst. Aber das war nur vor lauter Anspannung, die einen immer schwindeln lässt, wenn ein wichtiger Moment naht, wenn das Ziel bald erreicht ist. Vor allem anderen hatte ich keine Angst. Ich
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