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Dich schlafen sehen

Dich schlafen sehen

Titel: Dich schlafen sehen
Autoren: A Brasme
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war. Aber das ist passé. Wir sind beide inzwischen erwachsen geworden.«
    Und dann sagte sie: »Ich entschuldige mich, Charlène. Für alles, was ich dir angetan habe.«
    In dem Moment, als sie das sagte, hätte eine andere bestimmt gejubelt und nichts verziehen. Ich hätte dieser Gegnerin zum ersten Mal furchtlos ins Gesicht sehen müssen, und ich wäre als Siegerin aus diesem Kampf hervorgegangen, hoch erhobenen Hauptes, ohne Gewissensbisse. Aber ich tat nichts dergleichen. Im Gegenteil. Ich beging meinen schlimmsten Fehler. Ich wurde rückfällig. Ich las den Kummer in ihren Augen und empfand Mitleid mit ihr. Ich gab feige nach, fühlte mit ihr und besiegelte endgültig den Bund mit meinem Wahnsinn.
    Und dann schlug sie mir vor, am folgenden Samstag bei ihr zu übernachten, wie früher, als wir noch Kinder gewesen seien, um zu reden, um
wieder zueinander zu finden
.
    Einverstanden, Sarah. Ich werde kommen, versprochen.
    Ich ging also wieder in die kleine Wohnung im 12. Arrondissement, die ich so gut von früher kannte, ihre bedrückende Stille, das fahle Licht, den unverwechselbaren Geruch. Wir nahmen wieder unser heimliches Geflüster im Halbdunkel ihres Zimmers auf, als sei es niemals unterbrochen worden. Und ich vernahm wieder ihr schallendes Lachen, fühlte den Schmerz ihrer Tränen, als sie mir ihr Herz ausschüttete, atmete den Geruch ihrer Haare dicht neben meinem Gesicht, als ich erwachte, lauschte ihrer klaren Stimme, sah in ihre betörenden Augen. Alles begann noch einmal von vorn. Ich wollte ihr glauben. Ich redete mir ein, dass Sarah sich ebenso verändert hatte wie ich. Ich dachte, wir würden wieder Freundinnen werden, wie damals mit dreizehn, und den Hass vergessen, der uns auseinander gebracht hatte. Ich wollte es glauben. Und ich habe es geglaubt.
    Ich redete mir ein, dass alles, was ich in der Vergangenheit hatte erdulden müssen, halb so schlimm gewesen sei. Und dass Sarah und ich von nun an gleichberechtigt seien, dass es zwischen uns keine Siegerin und keine Besiegte mehr gebe. Jetzt, wo ich Maxime und Sarah hatte, war mein Glück vollkommen. Ich konnte wieder ein ausgeglichenes Leben führen und brauchte mir keine Sorgen mehr zu machen: Ich war geheilt.
    Die Wahrheit ist, dass ich es nicht kommen sah. Oder vielmehr, dass ich nicht verstehen wollte.
    Was hast du, Charlène? Sag, woran denkst du?«
    Maximes Stimme unterbrach die Stille. Ich schmiegte mich an ihn, wir küssten uns. Ich wusste nicht, was ich ihm antworten sollte. Wie sollte ich ihn beruhigen? Ich fand nicht die Kraft dazu.
    »Es ist alles in Ordnung, Maxime, glaube mir. Alles in Ordnung.«
    »Charlène, bitte. Du darfst nicht wieder in ihre Klauen geraten. Ich weiß nur zu gut, was dann passiert.«
    »Nein. Ich schwöre dir, sie hat sich geändert. Sie ist nicht mehr wie früher, sie will, dass wir wieder Freunde werden.«
    »Das kann ich nicht glauben, tut mir Leid. Wenn ich du wäre, würde ich diesem Mädchen nicht trauen.«
    »Lass mich in Frieden.«
    Ich sprang abrupt aus dem Bett. Ohne etwas zu sagen und ohne ihn einmal anzusehen, zog ich mich unter seinen ernüchterten Blicken an.
    »Ich muss gehen. Sarah erwartet mich, wir gehen heute Abend mit ihrer Mutter essen. Salut.«
    Ich gab ihm einen eisigen Kuss auf die Lippen. Ich ging und nahm mir nicht einmal die Zeit, auf sein »Ich liebe dich« zu antworten, das er mir aus dem Zimmer nachrief. Es klang wie ein letzter verzweifelter Schrei.
    Nein, ich habe nichts kommen sehen.
    Ich ließ mich wieder auf Sarahs Spiel ein. Ich glaubte allen ihren Versprechungen, ich ließ mich beruhigen. Ich hörte ihr zu, als sie mir ihr Leid klagte, ich nahm sie in die Arme, in denen sie lange weinte, und dann versprach ich selbstverständlich, ihr nach Kräften zu helfen. Ich schwor es ihr im Namen unserer Freundschaft.
    Schließlich gelang es ihr, mich davon zu überzeugen, dass alles meine Schuld sei. Ich und niemand sonst sei verantwortlich für ihre missliche Lage. So hatte sie es beschlossen, und ich musste mich schuldig bekennen.
    Dann half ich ihr, wie versprochen. Ich sparte das Taschengeld ganzer Monate und das Geld, das ich mit kleinen Jobs verdiente, um ihrer Mutter zu helfen, ihre Schulden zu begleichen. Dann bemühte ich mich, alle ihre ehemaligen Freunde davon zu überzeugen, dass Sarah sich sehr geändert habe, dass sie ein guter Mensch sei. Ich opferte Stunden und hörte ihr zu – Zeit, die ich mit Maxime hätte verbringen können. Ich gab alles. Meine ganze Liebe, meine
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