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Dich schlafen sehen

Dich schlafen sehen

Titel: Dich schlafen sehen
Autoren: A Brasme
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gebeten hatte, versuchte er, mich besser kennen zu lernen und mein Zutrauen zu gewinnen. Ich hingegen strebte nach nichts. Mein Wahnsinn genügte mir. Ich brauchte keine Hilfe, ich brauchte keine Liebe außer der von Sarah.
    Doch im Grunde gab er mir vielleicht den Halt, nach dem ich mich immer gesehnt hatte.
    Nach und nach zeigte sich eine neue Charlène. Ich vermisste Sarah immer weniger. Maxime liebte das Leben. Und manchmal ließ ich mich von seiner Freude anstecken und teilte sie ganz mit ihm.
    Wochen vergingen. Und dann entglitt die ganze Angelegenheit meiner Kontrolle. Zweifellos belog ich mich sogar selbst, als die Dinge zwischen uns sich zu ändern begannen. Ich durfte mich nicht verlieben, nein, ich nicht. Die Stimme in meinem Innern brüllte. Nein, rief sie, du gehörst Sarah, ihr allein, hörst du? Doch ich konnte auf Maxime nicht mehr verzichten.
    Obwohl ich fast sechzehn war, hatte ich die Liebe noch nicht kennen gelernt und keine andere Zuneigung erfahren als die meiner Eltern und meiner wenigen Freunde. Ich wusste nichts von leidenschaftlicher Liebe, nicht einmal, was man bei einem simplen Kuss empfindet. Der Gedanke zu lieben war mir damals unvorstellbar.
    Die meisten Mädchen in meiner Klasse waren keine Jungfrauen mehr, Sarah schon gar nicht. Damals beneidete ich sie um ihre ersten Techtelmechtel und die begehrlichen Blicke der Jungs. Mir war es gerade mal gelungen, hin und wieder ein albernes Augenzwinkern zu erhaschen. Keiner hatte mich geliebt. Und ich selbst konnte mir nicht vorstellen, einen Jungen zu lieben. Der bloße Gedanke entsetzte mich. Denn das einzige Gefühl, das ich bis dahin für einen Menschen, für Sarah, empfunden hatte, hatte sich mit der Zeit in diese maßlose, krankhafte Besessenheit verwandelt.
    Ich durfte Maxime nicht lieben. Nicht ihn. Ihn lieben würde unweigerlich darauf hinauslaufen, ihm wehzutun. Er kannte mich bereits zu gut. Vielleicht wusste er sogar schon, dass ich total verrückt war, dass die Gerüchte, die über mich kursierten, nicht völlig aus der Luft gegriffen waren. Doch offensichtlich war er entschlossen, eine feste Beziehung mit mir einzugehen, und obwohl ich auf seine Fragen schwieg, wollte er alles über mich erfahren. Er sagte, dass er in meinem Inneren gelesen habe. Und dass er mich rührend und interessant finde, mit einem Wort, anziehend. Im Stillen flehte ich ihn an zu schweigen.
    Ich tat ihm jetzt schon zu sehr weh. Aus Furcht, meine Beziehung zu ihm könnte sich ähnlich entwickeln wie die zu Sarah, sperrte ich mich dagegen, ihn zu lieben. Ich fürchtete mich vor der Zukunft.
    Also beschloss ich, ihm aus dem Weg zu gehen.
    Unter dem Vorwand, meine Eltern hätten es mir verboten, damit ich mehr für die Schule lernte – in Wahrheit war ihnen das völlig schnuppe –, gab ich ihm einen Korb, wenn er mich nach der Schule ins Café einlud, und lehnte sogar ab, wenn er unbedingt wollte, dass ich mit seiner Familie, die ich sehr mochte, zu Mittag aß. Ich mied hartnäckig seinen Blick, den er keine Sekunde mehr von mir ließ, und hörte weg, wenn er sprach, obwohl mich seine Worte sonst immer gefesselt hatten. Nach einer gewissen Zeit beschloss ich, ihn zu vergessen.
    In Wahrheit wollte ich ihm nur Kummer ersparen. Er konnte auch ohne mich glücklich werden. Davon war ich überzeugt.
    Eines Abends im November, es war sehr kalt und schon dunkel, fuhr ich mit der Metro. Als ich an der Station Émile-Zola wieder ausstieg, ließ mich die eisige Kälte erschauern.
    Ich ging weiter, und als ich vor meinem Haus ankam, hörte ich eine leise Stimme hinter mir.
    »Charléne! Warte, wir müssen miteinander reden. Sieh mich an, bitte.«
    Maxime stand reglos im Schein der Straßenlaternen, ganz nah, und sah mich mit unbewegter Miene an. Schnee bedeckte seine blonden Haare.
    »Bist du mir nachgegangen?«
    »Ja.«
    »Das hättest du nicht tun sollen. Lass mich in Ruhe.«
    »Das war der einzige Weg, damit du mir zuhörst.«
    »Na schön. Schieß los.«
    »Eigentlich schuldest du mir eine Erklärung.«
    »Worauf willst du hinaus?«
    Ich wusste es sehr gut, wollte es mir aber nicht eingestehen.
    »Spiel nicht die Ahnungslose, Charlène. Du gehst mir aus dem Weg, das machst du absichtlich, ich weiß es genau.«
    »Ich verstehe nicht, was du meinst. Ich habe dir doch schon erklärt, dass meine Eltern im Moment ziemlich streng sind und...«
    Ich hielt plötzlich inne. Sein durchdringender Blick zerriss mir das Herz. Ich wollte ihn anbrüllen, er solle abhauen, aus meinem
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