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Dich schlafen sehen

Dich schlafen sehen

Titel: Dich schlafen sehen
Autoren: A Brasme
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nicht richtig beschreiben kann, den ich aber jedes Mal, wenn er mir in den Sinn kommt, einfach »den blauen Duft« nenne, wegen ihrer großen unergründlichen Augen. Vanessa war ein blauer Duft. Vanessa war eine blaue Blume. Vanessa war ein blauer Engel.
    Eigentlich hat das alles nichts mit der Geschichte zu tun, die folgen wird. Außer vielleicht, dass ich mich immer nach dem Glück dieser Freundschaft gesehnt und mich lange bemüht habe, es bei jemand anders wieder zu finden. Wenn ich Vanessas Gegenwart heraufbeschwöre, dann weil sie mehr als nur eine Episode meiner Kindheit gewesen ist. Und vielleicht ist sie der einzige Mensch, der seit damals immer bei mir geblieben ist. Ich weiß nicht genau, was aus ihr geworden ist, und doch ist sie immer noch da. Wir haben es nie wirklich ausgesprochen, denn mit fünf findet man selten die richtigen Worte, aber es galt für uns wie ein geheimes Versprechen. Eines Tages, während der Verhandlung, hatte ich, als ich mich den Zuschauerbänken zuwandte, das Gefühl, den Blick ihrer großen opalenen Augen aufzufangen, die mich, nach fast fünfzehn Jahren, genauso ansahen wie früher.
    Diese Zeit in meinem Leben, die den allerersten Jahren folgte, ist bis heute voller Widersprüche geblieben, beinahe ätherisch. Ich hatte eine seltsame Kindheit. In dieser Welt von Verrückten nahm ich nur meine eigene Welt wahr.
    Vielleicht war dieses Bedürfnis, allein zu sein, mein mangelndes Verständnis für die anderen der Grund, warum ich das erste Mal mit dem Schreiben begonnen habe. Eines Tages, ich war vielleicht acht Jahre alt, bat ich meine Mutter, mir ein einfaches Heft zu besorgen. Und ich vertrieb mir die Zeit damit, in einer plumpen, unbeholfenen Schrift Seiten voll zu schreiben. Geschichten zu erfinden und zu Papier zu bringen, Figuren zu erschaffen und ihnen Leben einzuhauchen, den kleinsten Träumen für immer Gestalt zu geben, das war für mich nicht nur ein Spiel wie jedes andere. Es machte mir wahnsinnigen Spaß, mit den Helden meiner Geschichten zu spielen, ihnen ein Gesicht und eine Identität zu geben – Prinzessinnen mit gebrochenen Herzen, verliebten kühnen Rittern, grausamen Hexen, die Böses im Schilde führten –, ich lebte, ich existierte mit ihnen, durch ihre fast schon greifbare Gegenwart, die mich für die Dauer eines Traums meine Einsamkeit vergessen ließ.
    Die Erinnerung an das Kind, das ich war, verfolgt mich. Das Schreiben, viel mehr als ein Vergnügen, viel mehr als ein Bedürfnis, ist bis heute meine Wahrheit geblieben, mein einziger Schutz vor der Realität.
    Diese Kindheit ist da, fest in den Mauern dieser Zelle verankert. Manchmal jedoch tauchen, weiter entfernt, für Momente wieder die unerwünschten Bilder auf, aufdringlich und störend.
    Eine Szene kommt mir in den Sinn. Die große Wohnung, eines Abends, wahrscheinlich im Winter – draußen ist es bereits dunkel. Ich höre Schreie. Gepolter, Tränen, aufgeregtes Treiben. Die Arme meines Bruders Bastien beschützen mich im Dunkeln, zittern aber genauso wie ich.
    Ich muss sieben Jahre alt gewesen sein, als die ersten Auseinandersetzungen zwischen meinen Eltern in unser Leben einbrachen und der langsame Zerfall unserer Familie seinen Anfang nahm. Es gab schlaflose Nächte, in denen ich, verborgen in der Dunkelheit meines Zimmers, mit Tränen in den Augen hörte, wie sie brüllten und schrien. Plötzlich steigen Bilder aus der Erinnerung auf: Maman, wie sie auf dem Sofa liegt, Schluchzer unterdrückt, und mein Vater, wie er unbewegt an seinem Schreibtisch sitzt, ganz die Ruhe nach dem Sturm.
    Ich habe nie genau erfahren, was geschehen war. Man wollte es mir nicht sagen, ich war noch zu jung, um die Angelegenheiten der Großen zu verstehen. Später war es in der Familie tabu, den Vorfall zu erwähnen. Ohne mir über den Ernst der Lage im Klaren zu sein, fragte ich eines Tages meine Mutter, ob sie wirklich in diesen Monsieur verliebt sei, über den mein Vater unentwegt schimpfte. Eine lange Stille trat ein, dann sah sie mich verzweifelt an und antwortete mit einem Kopfnicken. Einen Augenblick lang habe ich sie aus tiefster Kinderseele gehasst.
    Was danach war, weiß ich nicht mehr. Unser Familienleben verharrte in einer Art Schwebezustand. Es war eine Zeit, in der wir nichts mehr gemeinsam hatten. Aus Achtung vor ihren Grundsätzen dachten meine Eltern nie an Scheidung. Jahrelang lebten wir wie vier Fremde nebeneinanderher, und ich vielleicht noch länger. Ich beobachtete die anderen und bestaunte das
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