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Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels

Titel: Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
Autoren: Lian Hearn
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KAPITEL 1

    Der Schritt war leicht und kaum wahrnehmbar in den Tausenden von Geräuschen des Herbstwalds: das Rascheln der Blätter, die der Nordwestwind verwehte, der ferne Flügelschlag, mit dem Gänse nach Süden flogen, das Echo der Laute aus dem Dorf weit unten; doch Isamu hörte den Schritt und erkannte ihn.
    Er legte die Grabwerkzeuge ins feuchte Gras, dazu die Wurzeln, die er gesammelt hatte, und entfernte sich. Die scharfe Klinge sprach ihn an, und er wollte von keinem Werkzeug, keiner Waffe verlockt werden. Er drehte sich seinem näher kommenden Cousin zu und wartete.
    Kotaro kam unsichtbar auf die Lichtung, wie es im Stamm üblich war, doch Isamu dachte nicht daran, sich auf die gleiche Art zu verbergen. Er kannte alle Fertigkeiten seines Cousins; sie waren fast gleich alt, Kotaro ein knappes Jahr jünger; sie hatten gemeinsam trainiert und dabei immer versucht, einander zu übertreffen; sie waren ihr Leben lang gewissermaßen Freunde und Rivalen zugleich gewesen.
    Isamu hatte gedacht, er sei in dieses abgelegene Dorf an der östlichen Grenze der Drei Länder entkommen, weit weg von den großen Städten, in denen die Angehörigen des Stamms am liebsten lebten, arbeiteten, ihre übernatürlichen Fähigkeiten an den Meistbietenden verkauften und in diesen Zeiten der Intrigen und Streitigkeiten unter den Clanführern Aufträge in Hülle und Fülle fanden. Aber niemand entkommt dem Stamm für immer.
    Wie oft hatte er diese Warnung als Kind gehört? Wie oft hatte er sie für sich wiederholt und dabei das finstere Vergnügen genossen, das die alten Fertigkeiten hervorrufen, während er den lautlosen Messerstoß ausführte, die Garrotte zudrehte oder, seine eigene Lieblingsmethode, das Gift in den Mund eines Schlafenden oder in ein ungeschütztes Auge träufelte.
    Er hatte keinen Zweifel daran, dass Kotaro jetzt das Echo dieser Gedanken vernahm, während die Gestalt des Cousins flimmernd sichtbar wurde.
    Einen Augenblick schauten sie einander wortlos an. Der Wald schien ebenfalls zu verstummen, und in dieser Stille glaubte Isamu weit drunten die Stimme seiner Frau zu hören. Wenn er sie hörte, dann hörte Kotaro sie auch, denn beide Cousins verfügten über die Fähigkeit der Kikuta, weit Entferntes zu hören, genau wie bei beiden die gerade Linie der Kikuta die Handfläche teilte.
    Â»Ich habe lange gebraucht, um dich zu finden«, sagte Kotaro schließlich.
    Â»Das war meine Absicht«, erwiderte Isamu. Mitgefühl war ihm noch immer nicht vertraut und er schreckte zurück vor dem Schmerz, den es in seinem Herzen auslöste. Mit Bedauern dachte er an die Güte seiner Frau, ihr Temperament, ihre Tugend; er wünschte, er könnte ihr Leid ersparen; er fragte sich, ob ihre kurze Ehe schon neues Leben in sie gepflanzt hätte und was sie nach seinem Tod tun würde. Sie würde Trost bei ihrem Volk finden, bei den Verborgenen. Ihre innere Kraft würde sie stärken. Sie würde um ihn weinen und für ihn beten; beides würde keiner im Stamm tun.
    Er folgte einem kaum verstandenen Instinkt wie die Vögel an diesem wilden Ort, den er inzwischen kannte und liebte, und beschloss, seinen Tod zu verschieben und Kotaro tief in den Wald zu führen; vielleicht würden sie beide aus dieser endlosen Weite nicht zurückkehren.
    Er spaltete sich und schickte sein zweites Ich zu seinem Cousin, während er schnell und völlig lautlos zwischen die schlanken Stämme der jungen Zedern lief, wobei seine Füße kaum den Boden berührten, über Felsklötze sprang, die von darübergelegenen Klippen gefallen waren, über glatte schwarze Steine unter Wasserfällen hüpfte, die im Schaum verschwanden und wieder auftauchten. Er bemerkte alles um sich herum: den grauen Himmel und die feuchte Luft des zehnten Monats, den kalten Wind, der den Winter ankündete und ihn daran erinnerte, dass er nie wieder Schnee sehen würde, das ferne heisere Bellen eines Hirschs, das Flügelschwirren und die gellenden Schreie, als seine Flucht einen Krähenschwarm aufscheuchte. So lief er, und Kotaro folgte ihm, bis Isamu Stunden später und Meilen von dem Dorf entfernt, das er zu seinem Zuhause gemacht hatte, seine Schritte verlangsamte und seinem Cousin erlaubte, ihn einzuholen.
    Er war tiefer in den Wald gekommen als je zuvor; hier gab es keine Sonnenstrahlen. Er hatte keine Ahnung, wo er war, und hoffte,
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