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Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels

Titel: Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
Autoren: Lian Hearn
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hatte. Sie wurde geläutet, wenn fremde Schiffe in Sicht kamen oder ein Wal strandete.
    Die drei Otorilords waren zeremoniell gekleidet, jeder hatte einen kleinen schwarzen Hut auf und hielt einen Fächer in der Hand. Shigeru kniete neben ihnen. Auch er trug formelle Gewänder – nicht die nassen, beschmutzten. Sie waren sorgfältig gewaschen und dann beim Haus seiner Mutter in dem kleinen Schrein, der dem Flussgott geweiht war, mit vielen anderen Gaben wie Reiswein und Silber dargeboten worden in der Hoffnung, den Geist so zu besänftigen. Viele in der Stadt murmelten, der Wassergott sei durch den Bau der neuen Brücke beleidigt und habe die Jungen im Zorn gepackt – zur Warnung. Der Bau solle sofort eingestellt werden. Der Steinmetz wurde bespuckt, seine Familie bedroht. Doch für Lord Shigemori war die Brücke ein Herzenswunsch, von dem er sich nicht abbringen ließ. Die Fundamente der Bögen waren gelegt und der erste Bogen strebte bereits in die Höhe.
    Das alles ging Shigeru durch den Sinn, als Mori Yusuke sich vor den drei Otoribrüdern auf den Boden warf. Er war Pferdezüchter und lehrte Shigeru und die anderen Kriegersöhne reiten. Er züchtete die Otoripferde und ritt sie zu, sie waren angeblich vom Flussgott gezeugt worden; jetzt hatte der Fluss ihm dafür seinen Sohn genommen. Seine Familie war von mittlerem Rang, aber wohlhabend. Ihre Fähigkeiten und ihre Ländereien am Fluss hatten ihnen Reichtum eingetragen. Shigemori hatte Yusuke dadurch begünstigt, dass er ihm die Erziehung seiner Söhne anvertraute.
    Yusuke war bleich, aber gefasst. Auf Shigemoris Befehl hob er den Kopf und sprach mit leiser, klarer Stimme.
    Â»Lord Otori, ich bedauere zutiefst das Leid, das ich Ihnen zugefügt habe. Ich bin gekommen, um Ihnen mein Leben darzubieten. Ich bitte nur um Ihre Erlaubnis, mich nach Kriegerart selbst zu töten.«
    Shigemori schwieg mehrere Sekunden. Yusuke senkte wieder den Kopf. Shigeru sah, wie unentschlossen sein Vater war, er kannte die Gründe dafür. Der Clan konnte es sich nicht leisten, einen Mann von Yusukes Kompetenz zu verlieren, doch die Beleidigung musste gesühnt werden, sonst würde sein Vater das Gesicht verlieren, als schwach wahrgenommen werden. Er glaubte, Ungeduld auf den Gesichtern seiner Onkel zu lesen, und auch Endo runzelte die Stirn.
    Shoichi räusperte sich. »Darf ich etwas sagen, Bruder?«
    Â»Ich möchte gern deine Meinung hören«, sagte Lord Otori.
    Â»Die Beleidigung und Kränkung unserer Familie sind in meinen Augen unentschuldbar. Es ist fast zu viel der Ehre, dieser Person zu erlauben, sich selbst das Leben zu nehmen. Das Leben der ganzen Familie sollte zudem gefordert werden sowie die Beschlagnahmung ihrer Ländereien und ihres Besitzes.«
    Shigemori blinzelte nervös. »Das erscheint mir etwas übertrieben«, sagte er. »Masahiro, was denkst du?«
    Â»Ich muss meinem Bruder zustimmen.« Masahiro fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Dein geliebter Sohn Takeshi ist fast gestorben. Lord Shigeru war ebenfalls in Gefahr. Unser Schreck, unser Kummer waren außerordentlich. Die Familie Mori muss dafür zahlen.«
    Shigeru kannte seine Onkel nicht gut. Als er noch im Haus seiner Mutter lebte, hatte er sie selten gesehen. Beide waren erheblich jünger als sein Vater, Söhne der zweiten Frau seines Großvaters, die noch bei ihrem ältesten Sohn Shoichi lebte. Shigeru wusste, dass sie eigene jüngere Kinder hatten, noch Kleinkinder oder Säuglinge, die er nie zu Gesicht bekommen hatte. Jetzt betrachtete er die Gesichter seiner Onkel und hörte ihre Worte, als wären sie Fremde. Ihre Äußerungen sprachen von Loyalität gegenüber ihrem Bruder und Ergebenheit gegenüber ihrer Familie, doch er glaubte hinter den gefälligen Sätzen etwas Verborgenes und Selbstsüchtiges zu erkennen. Und sein Vater hatte Recht: Die geforderte Strafe war viel zu hart; es gab keinen Grund, das Leben der ganzen Familie zu fordern – er dachte an den schluchzenden Jungen am Wehr und den anderen Bruder, an die Frau, die geschrien hatte wie ein Brachvogel –, es sei denn, die Onkel begehrten, was die Familie besaß: Yusukes fruchtbares Land und vor allem die Pferde.
    Sein Vater unterbrach seine Gedanken. »Lord Shigeru, du warst von diesen unglücklichen Ereignissen am unmittelbarsten betroffen. Was wäre deiner Meinung nach die
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