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Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels

Titel: Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
Autoren: Lian Hearn
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beide empfanden die gleiche jähe Freude. Gerade blühten die Azaleen, und ein roter Schimmer überglänzte die Büsche. Um die Teiche standen weiße und violette Iris, die Blätter der Obstbäume prangten in frischem Grün. Ein Bach floss durch den Garten und rotgoldene Karpfen flitzten unter der Oberfläche. Von draußen kam das Geräusch des Flusses, ein sanftes Wellenschlagen – und unter dem Blumenduft lag der vertraute Geruch nach Schlamm und Fisch.
    In der Mauer war ein Bogen, durch den der Bach in den Fluss dahinter floss. Ein Gitter aus zusammengebundenen Bambusstäben stand gewöhnlich vor der Öffnung und versperrte streunenden Hunden den Zugang zum Garten – Shigeru bemerkte, dass es zur Seite gezogen war, und lächelte insgeheim, weil er sich erinnerte, wie er selbst auf diesem Weg zum Flussufer gegangen war. Takeshi spielte wahrscheinlich draußen, vermutlich bekämpften sich zwei Gruppen mit Steinwürfen und seine Mutter machte sich Sorgen um ihn. Auf Takeshi wartete eine Strafpredigt, weil er nicht in seinen besten Sachen bereitstand, um den älteren Bruder zu begrüßen, aber Mutter und Bruder würden ihm rasch verzeihen. Beim Gedanken an das Wiedersehen mit seinem Bruder wurde Shigeru noch heiterer.
    Chiyo rief einen Willkommensgruß von der Veranda, Shigeru drehte sich um und sah neben ihr eine Dienerin, die mit einer Wasserschüssel auf den Bretternkniete und darauf wartete, den Ankömmlingen die Füße zu waschen. Ichiro stieß einen tiefen, befriedigten Seufzer aus, lächelte so breit wie nie im Schloss und ging auf das Haus zu – doch bevor Shigeru ihm folgen konnte, ertönte ein Schrei jenseits der Gartenmauer und Endo Akira kam platschend durchs Wasser gerannt. Er war von Schmutz bedeckt und blutete an Stirn und Hals.
    Â»Shigeru! Dein Bruder! Er ist in den Fluss gefallen!«
    Vor noch nicht langer Zeit hatte sich Shigeru an ähnlichen Kämpfen beteiligt und Akira war einer seiner Helfer gewesen. Die Otorijungen, Akira und Takeshis bester Freund Miyoshi Kahei waren in eine ständige Fehde mit den Söhnen der Morifamilie verstrickt, die am anderen Ufer lebten und das Fischwehr als ihre eigene Privatbrücke betrachteten. Die Jungen trugen ihre Kämpfe mit runden schwarzen Steinen aus, die sie bei Niedrigwasser aus dem Schlamm gruben. Jeder war irgendwann in den Fluss gefallen und hatte gelernt, mit dessen trügerischen Launen zurechtzukommen. Shigeru zögerte, eigentlich wollte er nicht ins Wasser springen, seine Kleidung beschmutzen und seine Mutter warten lassen.
    Â»Mein Bruder kann schwimmen!«
    Â»Nein. Er ist nicht wieder aufgetaucht.«
    Angst durchfuhr Shigeru und machte ihm den Mund trocken.
    Â»Zeig mir, wo.« Er sprang in den Bach und Akira folgte ihm. Von der Veranda hörte er Ichiro wütend rufen: »Lord Shigeru! Jetzt ist keine Zeit zum Spielen! Ihre Mutter wartet auf Sie.«
    Shigeru fiel auf, wie tief er unter dem Bogen den Kopf senken musste. Er hörte die verschiedenen Melodien des Wassers, die Kaskade vom Garten, das Klatschen, mit dem der Bach unter dem Mauerbogen ans Flussufer schlug. Er ließ sich in den Schlamm fallen, spürte, wie seine Sandalen darin versanken, riss sie sich von den Füßen, warf sie ohne nachzudenken zusammen mit Jacke und Gewand in den Schlick und sah nur die grüne leere Oberfläche des Flusses. Stromabwärts, rechts von ihm, ragte der erste Pfeiler der noch unvollendeten Steinbrücke aus dem Wasser, die hereinströmende Flut wirbelte zwischen ihren Fundamenten und trug ein Boot mit sich, das von einem jungen Mädchen gesteuert wurde. Als Shigeru kurz zu ihr hinüberschaute, merkte er, dass sie von dem Unfall wusste, weil sie aufstand, aus ihrem Obergewand schlüpfte und zum Sprung bereit war. Dann blickte er stromaufwärts zum Fischwehr, wo die beiden jüngeren Morijungen knieten und ins Wasser spähten.
    Â»Mori Yuta ist auch hineingefallen«, sagte Akira.
    In diesem Moment teilte sich das Wasser mit einem Platsch und Miyoshi Kahei tauchte auf. Er rang nach Luft, sein Gesicht war fast grün, seine Augen quollen hervor. Er atmete zwei- oder dreimal tief ein und tauchte wieder.
    Â»Dort sind sie«, sagte Akira.
    Â»Geh und hole die Wachtposten«, sagte Shigeru, doch er wusste, dass keine Zeit blieb, auf Hilfe zu warten. Er rannte vor und sprang in den Fluss. Ein paar Schritte vom Ufer entfernt
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