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Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels

Titel: Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
Autoren: Lian Hearn
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wurde das Wasser plötzlich tief, die Flut strömte kräftig zurück und schob Shigeruzum Fischwehr. Knapp vor ihm tauchte Kahei wieder auf, er hustete und spuckte.
    Â»Shigeru!«, schrie er. »Sie sind unter dem Wehr eingeklemmt.«
    Shigeru hatte jetzt nur noch den Gedanken, dass er Takeshi nicht im Fluss sterben lassen konnte. Er tauchte hinab in das trübe Wasser und spürte dabei die zunehmende Stärke der Flut. Er sah die verschwommenen Gestalten wie Schatten, ihre blassen Glieder waren miteinander verschlungen, als würden sie noch raufen. Yuta, der Ältere und Schwerere, war dem Ufer näher. Er wurde gegen die Holzkonstruktion des Wehrs geschoben und hatte in seiner Panik Takeshi noch weiter zwischen die Pfähle gezwängt. Sein Lendentuch schien sich an einem gezackten Holzstück verfangen zu haben.
    Shigeru zählte in Gedanken, um ruhig zu bleiben. Das Blut klopfte in seinen Ohren, als seine Lungen nach Luft verlangten. Er zog an dem nassen Tuch, aber es kam nicht frei, er konnte Yuta nicht aus dem Weg schieben, um Takeshi zu erreichen. Er spürte eine Bewegung des Wassers neben sich und merkte, dass er nicht allein war. Er rechnete mit Kahei, doch dann sah er den bleichen Umriss einer Mädchenbrust vor dem dunklen Holz und dem grünen Tang. Das Mädchen packte Yuta und zog an ihm. Das Tuch riss los. Der Junge hatte den Mund geöffnet, ohne dass Luftblasen herauskamen. Er sah bereits tot aus – Shigeru konnte einen retten, aber nicht beide, und in diesem Moment dachte er an keinen außer Takeshi. Er tauchte tiefer und packte den Arm seines Bruders.
    Shigerus Lungen schienen zu bersten, vor seinen Augen war nur noch Rot. Es sah aus, als würde Takeshi die Glieder bewegen, doch sie wurden vom Wasser geschaukelt. Für einen Achtjährigen wirkte er ungewöhnlich schwer, zu schwer, als dass Shigeru ihn jetzt allein an die Oberfläche heben könnte. Aber Shigeru ließ ihn nicht los. Eher würde er in diesem Fluss sterben, als seinen Bruder darin alleinzulassen. Das Mädchen war neben ihm, zog an Takeshi, schob beide empor. Shigeru konnte nur ihre Augen erkennen, die dunkel waren und geweitet vor Anstrengung. Sie schwamm wie ein Kormoran, besser als er.
    Das Licht war schmerzhaft nah. Er sah es gebrochen durch die Wasseroberfläche, konnte es aber nicht erreichen. Unbewusst öffnete er den Mund – vielleicht zum Atmen, vielleicht, um nach Hilfe zu rufen – und schluckte Wasser. Seine Lungen schienen vor Schmerz zu schreien. Der Fluss war zum Gefängnis geworden, sein Wasser war nicht mehr flüssig und zart, sondern wie eine feste Membran, die sich um ihn schloss und ihn erwürgte.
    Schwimm hinauf. Schwimm hinauf. Es war, als hätte sie es zu ihm gesagt. Ohne zu wissen wie, entdeckte er in sich einen winzigen Rest Kraft. Das Licht wurde blendend hell, dann brach sein Kopf durch die Oberfläche und er schnappte nach Luft. Der Fluss lockerte seinen Schlangengriff, hielt ihn und Takeshi jetzt wieder sanft in seinen Armen.
    Der Bruder hatte die Augen geschlossen, offenbar atmete er nicht. Shigeru trat zitternd Wasser, legte dabei den Mund auf den von Takeshi und gab ihm seinen Atem, wobei er alle Götter und Geister anflehte, ihm zuhelfen, den Flussgott und den Tod scharf zurechtwies und ihnen verbot, Takeshi in ihre dunkle Welt hinunterzuholen.
    Wachtposten vom Haus waren ans Flussufer gekommen und wateten ins Wasser. Einer von ihnen nahm Takeshi und schwamm mit kräftigen Zügen zurück an Land. Ein anderer packte Kahei und half ihm zurückzuschwimmen. Ein dritter versuchte Shigeru zu helfen, doch der stieß ihn zurück.
    Â»Mori Yuta ist noch dort unten. Hol ihn herauf.«
    Der Mann erbleichte und tauchte sofort.
    Shigeru hörte den jüngsten Mori am Wehr schluchzen. Irgendwo in der Ferne schrie eine Frau, es klang wie der schrille Ruf eines Brachvogels. Während Shigeru zum Ufer schwamm und aus dem Wasser schwankte, nahm er die gewohnte friedliche Stimmung des späten Nachmittags wahr, die Wärme der Sonne, die Gerüche von Blüten und Schlamm, die sanfte Berührung des Südwinds.
    Der Wachtposten hatte Takeshi mit dem Gesicht nach unten auf den Strand gelegt, kniete neben ihm und drückte ihm behutsam auf den Rücken, um das Wasser aus seinen Lungen zu entfernen. Der Mann sah ernst und erschrocken aus, immer wieder schüttelte er den Kopf.
    Â»Takeshi!«, rief Shigeru.
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