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Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels

Titel: Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
Autoren: Lian Hearn
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dass Kotaro ebenso orientierungslos war. Hier in den Bergen, an diesem einsamen Hang über einer tiefen Schlucht, wünschte er seinemCousin den Tod. Aber er würde ihn nicht töten. Er, der so häufig getötet hatte, würde nie wieder töten, noch nicht einmal, um das eigene Leben zu retten. Diesen Schwur hatte er abgelegt und er wusste, dass er ihn nicht brechen würde.
    Der Wind hatte gedreht, er kam nun von Osten und es war wesentlich kälter geworden, doch durch die Verfolgung war Kotaro ins Schwitzen geraten; Isamu sah die glänzenden Schweißtropfen, als sein Cousin näher kam. Keiner von ihnen atmete schwer, trotz ihrer Anstrengung. Ihr leichter Körperbau täuschte über eisenharte Muskeln und Jahre des Trainings hinweg.
    Kotaro blieb stehen und zog ein Stöckchen aus seiner Jacke. Er streckte es aus und sagte: »Es ist nichts Persönliches, Cousin. Das möchte ich klarmachen. Die Kikutafamilie hat die Entscheidung getroffen. Wir haben Lose gezogen und es traf mich. Aber wie bist du nur auf den Gedanken gekommen, den Stamm zu verlassen?«
    Als Isamu nicht antwortete, fuhr Kotaro fort: »Ich nehme an, das ist es, was du wolltest. Zu diesem Schluss ist die ganze Familie gekommen, als wir über ein Jahr lang nichts von dir hörten, als du weder nach Inuyama noch ins Mittlere Land zurückkamst und keine der dir übertragenen Aufgaben ausführtest, die von Iida Sadayoshi in Auftrag gegeben – und, lass mich das hinzufügen, bezahlt – wurden. Einige meinten, du wärst tot, aber niemand hatte davon berichtet und mir fiel es schwer, das zu glauben. Wer könnte dich töten, Isamu? Niemand könnte dir nah genug kommen, um es mit Messer oder Schwert oder Garrotte zu tun. Du schläfstnie unabsichtlich ein, du wirst nie betrunken. Du hast dich gegenüber allen Giften immun gemacht; dein Körper heilt sich selbst von allen Krankheiten. Es hat in der Geschichte des Stamms nie einen Attentäter wie dich gegeben, selbst ich gebe deine Überlegenheit zu, obwohl es mir schwerfällt, das zu sagen. Jetzt finde ich dich hier, sehr lebendig, sehr weit von dem Ort entfernt, wo du sein solltest. Ich muss akzeptieren, dass du den Stamm verlassen hast, und dafür gibt es nur eine Strafe.«
    Isamu lächelte leicht, schwieg aber immer noch. Kotaro legte das Stöckchen in die Vorderfalte seiner Jacke zurück. »Ich will dich nicht töten«, sagte er leise. »Das ist das Urteil der Kikutafamilie, falls du nicht mit mir zurückkehrst. Wie gesagt, wir haben Lose gezogen.«
    Die ganze Zeit war seine Haltung wachsam, sein Auge ruhelos, der ganze Körper angespannt in Erwartung des bevorstehenden Kampfes.
    Isamu sagte: »Ich will dich auch nicht töten. Aber ich werde nicht mit dir gehen. Du hast Recht, wenn du sagst, ich habe den Stamm verlassen. Ich habe ihn für immer verlassen. Ich werde nie zurückkehren.«
    Â»Dann habe ich den Auftrag, dich hinzurichten.« Kotaro sprach förmlich, wie einer, der ein Urteil überbringt. »Wegen Ungehorsams gegenüber deiner Familie und dem Stamm.«
    Â»Ich verstehe«, antwortete Isamu ebenso förmlich.
    Keiner rührte sich. Kotaro schwitzte immer noch stark trotz des kalten Windes. Sie schauten einander an und Isamu spürte die Kraft im Blick seines Cousins. Beide hatten die Fähigkeit, einen Gegner einzuschläfern; beide konnten dem gleichermaßen widerstehen. Derstille Kampf zwischen ihnen dauerte viele Augenblicke, bis Kotaro ihn beendete, indem er sein Messer hervorzog. Seine Bewegungen waren schwerfällig und ungeschickt, ganz ohne seine übliche Gewandtheit.
    Â»Du musst tun, was du tun musst«, sagte Isamu. »Ich vergebe dir und ich bete, dass der Himmel dir auch vergibt.«
    Seine Worte schienen Kotaro noch mehr zu reizen. »Du vergibst mir? Was ist denn das für eine Sprache? Wer im Stamm hat je jemandem vergeben? Es gibt entweder totalen Gehorsam oder Strafe. Wenn du das vergessen hast, bist du dumm oder verrückt geworden – jedenfalls ist die einzige Lösung der Tod!«
    Â»Das weiß ich alles so gut wie du. Genau wie ich weiß, dass ich dir oder diesem Urteil nicht entkommen kann. Also führe es aus mit der Gewissheit, dass ich dich von aller Schuld freispreche. Ich hinterlasse niemanden, der mich rächt. Du wirst dem Stamm gehorcht haben und ich … meinem Herrn.«
    Â»Du wirst dich nicht
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