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Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels

Titel: Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
Autoren: Lian Hearn
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gerechte und zugleich ausreichende Strafe?«
    Es war das erste Mal, dass er bei einer Audienz zum Sprechen aufgefordert wurde, und er hatte schon an vielen teilgenommen.
    Â»Ich bin überzeugt, dass meine Onkel nur von der Treue zu meinem Vater veranlasst wurden, so zu reden.« Er verneigte sich tief. Dann setzte er sich auf und fuhr fort: »Aber ich glaube, Lord Otori hat Recht. Lord Morimuss sich nicht das Leben nehmen, sondern soll wie zuvor dem Clan dienen, der von seiner Ergebenheit und seinen Fähigkeiten großen Nutzen hat. Lord Mori hat seinen ältesten Sohn verloren und damit schon die Strafe des Himmels erfahren. Lasst ihn bereuen, indem er einen seiner anderen Söhne dem Flussgott weiht, damit er dem Schrein dient, und indem er dem Schrein außerdem Pferde schenkt.«
    Shoichi sagte: »Lord Shigeru zeigt Weisheit über seine Jahre hinaus. Doch ich glaube nicht, dass damit die Beleidigung unserer Familie gesühnt wird.«
    Â»So groß war die Beleidigung nicht«, sagte Shigeru. »Es war ein Unfall bei einem Spiel der Jungen. Auch die Söhne anderer Familien waren beteiligt. Sind ihre Väter ebenfalls verantwortlich zu machen?«
    Alle betroffenen Väter waren anwesend – Endo, Miyoshi, Mori und sein eigener … Zornig stieß er hervor: »Wir sollten nicht unsere eigenen Leute töten. Unsere Feinde brennen darauf, das zu tun.«
    Das Argument klang in seinen Ohren hoffnungslos kindisch und er schwieg. Masahiro schien ihn spöttisch anzuschauen.
    Lord Otori sagte: »Ich stimme meinem Sohn zu. Es soll sein, wie er vorschlägt. Mit einer Ergänzung: Mori, ich glaube, du hast zwei überlebende Söhne. Lass den jüngeren zum Schrein gehen und schicke den älteren hierher. Er wird Shigeru zu Diensten sein und mit ihm erzogen werden.«
    Â»Die Ehre ist zu groß«, widersprach Mori, doch Shigemori hob die Hand.
    Â»Das ist meine Entscheidung.«
    Shigeru bemerkte den verborgenen Ärger seiner Onkel über das Urteil des Vaters, und das verwirrte ihn. Sie hatten alle Vorteile von Rang und hinreichendem Wohlstand und doch waren sie nicht zufrieden. Sie hatten Moris Tod nicht der Ehre wegen verlangt, sondern aus anderen, dunkleren Gründen – Habgier, Grausamkeit, Neid. Er glaubte nicht, das seinem Vater oder den älteren Gefolgsleuten gegenüber äußern zu können – es erschien ihm zu illoyal gegenüber der Familie –, doch von diesem Tag an beobachtete er sie genau, ohne es sich anmerken zu lassen, und verlor jedes Vertrauen zu ihnen.

KAPITEL 4 

    Mori Kiyoshige wurde Shigerus engster Gefährte. Während sein jüngerer Bruder am Wehr geschluchzt hatte, war Kiyoshige nach Hause gelaufen, um Hilfe zu holen. Weder damals noch später hatte er geweint: Es wurde behauptet, dass er nie Tränen vergieße. Seine Mutter war auf den Tod ihres Mannes und den Ruin der Familie vorbereitet gewesen. Als Yusuke lebend nach Hause kam mit der Nachricht, Kiyoshige solle ins Schloss gehen, weinte sie vor Erleichterung und Freude.
    Kiyoshige war schmächtig, doch bereits ungeheuer stark für sein Alter. Wie sein Vater hatte er eine große Liebe zu Pferden und großes Geschick im Umgang mit ihnen. Er war selbstbewusst bis zur Dreistigkeit, und sobald er seine Scheu überwunden hatte, behandelte er Shigeru so wie seinen älteren Bruder, stritt mit ihm, neckte ihn und raufte sogar gelegentlich mit ihm. Seine Lehrer hielten ihn für unbezähmbar – vor allem Ichiro fand seine Geduld bis zur Grenze strapaziert –, doch Kiyoshiges gute Laune und Fröhlichkeit, sein Mut und sein Talent beim Reiten sicherten ihm die Zuneigung der Erwachsenen im gleichen Maß, wie er sie irritierte, und seine Treue zu Shigeru war vollkommen.
    Trotz ihres relativen Reichtums lebte seine fleißige Familie sehr genügsam. Kiyoshige war daran gewöhnt,vor Sonnenaufgang aufzustehen und seinem Vater mit den Pferden zu helfen und dann vor dem Morgenunterricht auf dem Feld zu arbeiten. Am Abend, wenn seine Mutter und die Schwestern nähten, mussten er und seine Brüder lernen, wenn sie nicht mit praktischen Aufgaben beschäftigt waren, zum Beispiel Sandalen aus Stroh anzufertigen, während ihr Vater ihnen aus den Klassikern vorlas oder Theorien der Pferdezucht diskutierte.
    Die Otori schätzten zwei Pferdearten vor allen anderen: Rappen und helle Graue mit schwarzen Mähnen und
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