Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)

Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)

Titel: Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)
Autoren: Michael Tsokos , Saskia Guddat
Vom Netzwerk:
schwerer und chronischer die Misshandlung, desto deutlicher die Verhaltensstörungen. Und vor allem männliche Jugendliche, die als Kinder misshandelt wurden, fallen spätestens ab den Pubertätsjahren häufig durch Gewalttätigkeit auf.
    Aus verschiedenen Studien lässt sich die Wahrscheinlichkeit sogar ziemlich genau berechnen:
    Psychische Erkrankungen
(häufiger bei Mädchen): Das Risiko, im Jugendalter an Depressionen oder Angststörungen zu erkranken, ist nach erlittener Kindesmisshandlung um das Drei- bis Vierfache erhöht.
Autoaggressives Verhalten:
Die Wahrscheinlichkeit, dass Jugendliche einen Suizidversuch unternehmen, ist nach Misshandlung im Kindesalter um das Drei- bis Sechsfache gesteigert.
Gestörtes Sozialverhalten
(meistens bei Jungen): Zu Gewalttätern werden Jugendliche nach Kindesmisshandlung sogar drei- bis achtmal häufiger als der Durchschnitt ihrer Altersgenossen.

»Mir hat es auch nicht geschadet!«
    Der dreijährige Tyler Reese wird in die Klinik eingeliefert. Der Junge ist buchstäblich von Kopf bis Fuß mit Hämatomen und Bissverletzungen übersät. Auch in diesem Fall ist die Mutter, Nadine Meller, noch keine zwanzig Jahre alt. Und ironischerweise hört auch ihr aktueller Lebensgefährte auf den Namen Kevin.
    Leider war auch dieser Kevin nicht allein zu Haus: Nadine hatte Tyler Reese wie so oft in der Obhut ihres Freundes zurückgelassen, um mit einer Freundin »in Ruhe shoppen zu gehen«.
    Als sie wieder nach Hause kam, lag Tyler Reese nackt und wimmernd in seinem Bett. Sie rief nach Kevin und fragte, was um Himmels willen mit dem Kind passiert sei.
    Kevin gab ihr keine Antwort. Er war damit beschäftigt, vor dem Spiegel im Wohnungsflur seine Hanteln zu stemmen. Er war gleichfalls nahezu nackt, und auch sein Körper war mit bunten Flecken übersät. Bei ihm waren es allerdings keine Blutergüsse, sondern großflächige Tattoos.
    Nadine starrte ihn wütend an, doch dann beschloss sie, ihn nicht weiter zur Rede zu stellen. Sie hatte Kevin erst vor ein paar Monaten über ein Dating-Forum im Internet kennengelernt. In diesem Forum preisen sich Männer und Frauen spärlich bekleidet als »perfekter Lover« oder »leidenschaftliche Liebhaberin« an. Nadine war sofort hingerissen von dem muskelbepackten jungen Mann mit den kunstvollen Tätowierungen.
    Jetzt war sie wütend auf Kevin, aber sie wollte ihn auf keinen Fall verlieren. Sie zog Tyler Reese etwas über und brachte ihn in die Klinik.
    In der Notaufnahme versorgt der diensthabende Arzt die Verletzungen des Jungen. Auf seine Frage, wie sich Tyler Reese die Bisswunden zugezogen habe, bekommt er keine klare Antwort. Er nimmt den Jungen auf die Kinderstation auf, dann verständigt er das Jugendamt.
    In diesem Fall ruft der zuständige Mitarbeiter direkt bei uns im Institut für Rechtsmedizin an: Nadine Meller ist für das Jugendamt kein unbeschriebenes Blatt. Sie war bereits durch eine Familienhelferin unterstützt worden und hatte die Betreuung abrupt beendet, weil sich die Familienhelferin für ihren Geschmack zu sehr in ihre Lebensführung eingemischt hatte.
    Nun bittet uns der Mann vom Jugendamt, Tyler Reese in der Klinik zu untersuchen und ein Gutachten zu erstellen. Es besteht der dringende Verdacht, dass der Kleine von seiner Mutter oder deren Freund massiv misshandelt wurde. Da Tyler Reese zu Hause akut gefährdet wäre, wird das Jugendamt den Jungen in Obhut nehmen, falls unser Gutachten den Verdacht auf Kindesmisshandlung bestätigt.
    Wir machen uns sofort auf den Weg in die Klinik.
    Kinder, die körperlich misshandelt wurden oder etwas Schreckliches mit ansehen mussten (etwa die Misshandlung der Mutter oder eines Geschwisterkindes), verfallen häufig in eine Art Schockstarre – die schon erwähnte
frozen watchfulness.
Doch es gibt noch ein anderes Reaktionsmuster, das besonders für Opfer chronischer Misshandlung symptomatisch ist: Diese Kinder begegnen jedem Menschen in ihrer Umgebung mit distanzloser Zugewandtheit. Anstatt zu schreien, wenn sich ihnen ein Fremder nähert, strahlen sie ihn an.
    Wer sich mit der Symptomatik nicht auskennt, könnte diese Distanzschwäche für ein Zeichen ungebrochenen Urvertrauens halten, doch das Gegenteil trifft zu: Die Kinder haben von frühestem Alter an die Erfahrung gemacht, dass niemand sie beschützt, wenn sie um Hilfe schreien. Also haben sie sich instinktiv darauf verlegt, jeden potenziellen Misshandler, der sich ihnen nähert, durch ihr Verhalten möglichst zu entwaffnen.
    Genauso
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher