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Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)

Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)

Titel: Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)
Autoren: Michael Tsokos , Saskia Guddat
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mit acht Jahren seine Mitmenschen mit dem Messer bedroht, ist nichts anderes als eine wandelnde Zeitbombe. Seine Entwicklung vom Opfer zum Täter ist schon gefährlich weit fortgeschritten (auch wenn sich das Jugendamt nach diesem gravierenden Vorfall endlich auf sein Wächteramt besinnt und den Jungen bis zur Rückkehr der Mutter von seinem brutal misshandelnden Vater trennt). Zumindest wäre in diesem Stadium schon ein enormer therapeutischer Aufwand erforderlich, um den künftigen Gewalttäter von der bereits eingeschlagenen Laufbahn abzubringen.
    Doch solche Programme, die eben noch rechtzeitig die Fehlentwicklung abwenden könnten, sind im deutschen Jugendschutzsystem leider nicht vorgesehen. Und so spult sich unter den Augen der tatenlosen Betreuer immer wieder der gleiche Film ab:
    Das kindliche Gewaltopfer entwickelt sich zum Gewalttäter. Je massiver die Erfahrung als Misshandlungsopfer, desto brutaler meist die vom späteren Täter verübte Gewalt. Aus dem
early starter,
wie die Jugendforscher sagen, dem Frühstarter in die Gewaltkarriere, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Intensivtäter, der bereits in seinen Jugendjahren zahlreiche schwere Körperverletzungsdelikte begeht. Und der seine aggressiven Verhaltensmuster spätestens dann so verinnerlicht hat, dass er gar nicht mehr fähig ist, ohne ständige Gewalttätigkeit zu leben.
    Solche Karrieren beginnen oftmals schon im Vorschulalter. Vier- oder fünfjährige Jungen (und zunehmend auch Mädchen) bekommen in ihren Familien die immer gleiche Lektion eingeprügelt: »Der Stärkere hat die Macht. Die Schwächeren sind weniger wert als Dreck. Also sieh zu, dass du selbst niemals der Schwächere bist.«
    Eine Lektion wie aus dem Urwald, die die
early starters,
die Gewalttäter im Milchzahnalter, unter enormen psychischen Stress setzt. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie später drogen- oder alkoholsüchtig werden, ist massiv erhöht, genauso wie ihr Risiko, psychisch zu erkranken. Ihre Depressionen und Angstattacken, ihre traumatischen Erinnerungen und ihr zertrümmertes Selbstwertgefühl bekämpfen sie spätestens ab dem Pubertätsalter mit Alkohol- und Drogenexzessen. Im Rausch wiederum schlagen sie noch hemmungsloser zu – so wie die jugendlichen Gewalttäter, die 2008 im Münchner U-Bahnhof Arabellapark einen Pensionär fast zu Tode prügelten.

Die Zusammenhänge sind wissenschaftlich erwiesen
    Kinder- und Jugendpsychiater berichten immer häufiger von einem bedrückenden Déjà-vu: Oftmals bekommen sie dieselben Individuen zweimal zu sehen – zuerst als kindliche Opfer von Misshandlung oder Vernachlässigung und ein paar Jahre später als jugendliche Gewalttäter, deren Schuldfähigkeit sie zu begutachten haben. Die Diagnose liegt also in vielen Fällen seit Jahren vor – und alle Fachleute aus dem Kinder- und Jugendschutz wissen, dass mit ihr eine düstere Prognose verknüpft ist.
    Schon 1974 wurde dieser Zusammenhang durch eine wissenschaftliche Studie belegt
(Robins):
Die Hälfte der kindlichen Patienten, bei denen eine »antisoziale« Entwicklungsstörung diagnostiziert wurde, kam später mit dem Strafgericht in Kontakt. Durch eine aktuellere Studie
(Mannheimer Risikokinderstudie)
wurden diese Ergebnisse voll und ganz bestätigt (
Forensisch-psychiatrische Aspekte,
S.  338 ).
    Natürlich handelt es sich nicht um eine schlichte Kausalbeziehung. Nicht jeder Mensch, der als Kind schwer misshandelt wird, entwickelt unvermeidlich psychiatrische Erkrankungen und soziale Verhaltensstörungen. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass er oder sie selbst schwere Körperverletzungsdelikte begehen wird, ist massiv erhöht.
    Die jüngere neurobiologische Forschung zeigt, dass Misshandlung in der Kindheit zu bleibenden Gehirnveränderungen führen kann. Die Fähigkeit der Misshandlungsopfer, ihre Emotionen zu steuern und ihre Umgebung realistisch wahrzunehmen, ist noch im Erwachsenenalter beeinträchtigt. Ihre Hirnströme weisen signifikante Veränderungen auf, und sogar das Hirnvolumen ist in vielen Fällen messbar verringert.
    Die aggressiven Verhaltensmuster werden also nicht wie ein Schulpensum erlernt, das sich ohne weiteres durch eine andere Lektion ersetzen ließe. Misshandlungserfahrungen prägen Körper, Geist und Seele zutiefst und können sogar Genveränderungen hervorrufen.
    Bei Kindern ab etwa zehn Jahren kann selbst der ungeschulte Beobachter die Folgen körperlicher Misshandlung erkennen: Diese Kinder sind auffällig unruhig und aggressiv. Je
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