Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)

verhält sich auch Tyler Reese, als wir ihn in der Klinik untersuchen wollen. Der kleine Junge klettert uns auf den Arm, nimmt unsere Hände und streichelt sich selbst damit über das Gesicht. Er lächelt uns an und sagt immer wieder: »Nach Hause nehmen. Mit nach Hause nehmen.«
    Szenen wie diese gehen auch den erfahrenen Kinderkrankenschwestern, die bei der Untersuchung assistieren, unter die Haut. Mit seinen drei Jahren ist Tyler Reese in seiner Sprachentwicklung so weit zurück, dass er sich mit Worten kaum verständlich machen kann. Aber seine Körpersprache ist nicht misszuverstehen. Er nimmt die Arme der Untersuchenden mit seinen kleinen Händen und legt sie sich um den Körper, um sich selbst zu umarmen. Unablässig lächelt er uns an. Offenbar wittert er hier eine Chance, jemanden für sich zu gewinnen, der es gut mit ihm meint.
    Wir geben ihm eine Milchschnitte, damit er abgelenkt ist und wir ihn in Ruhe untersuchen können. Doch Tyler Reese stopft sich die Leckerei in den Mund und schlingt sie blitzartig hinunter. Im nächsten Moment greift er wieder nach unseren Händen und will sich damit streicheln.
    Als er eine weitere Milchschnitte bekommt, schlingt er sie gleichfalls in Sekundenschnelle hinunter. Während der ganzen Zeit, die er auf der Kinderstation verbringt, wird er sich mit der gleichen gierigen Hast auf jede Mahlzeit stürzen, egal was gerade auf dem Teller liegt.
    Allem Anschein nach bekommt Tyler Reese zu Hause nur unregelmäßig zu essen – und wenn es etwas gibt, muss er es in größter Eile hinunterwürgen. Weil seine Betreuer rasch die Geduld verlieren und ihm sein Essen wieder wegnehmen, wenn er zu langsam ist. Und weil sie ihn »zur Strafe« vielleicht auch noch schlagen.
    Schließlich gelingt es uns, den Jungen zu untersuchen. Er hat zahlreiche Hämatome auf Wangen und Armen, Brust und Bauch und sogar am Penis, die wie Halbmonde geformt sind. Wir messen die Hämatome aus – es handelt sich um Verletzungen durch das Gebiss eines erwachsenen Menschen. In der Rechtsmedizin sprechen wir von »Bissmarken«. Auch das Hämatom am Penis des Kindes ist eindeutig durch Beißen entstanden.
    Kevin Nocke wird vorläufig festgenommen und beim LKA 125 verhört. Er ist kaum älter als seine aktuelle Lebensgefährtin Nadine Meller, eben 21 geworden. Als Beruf gibt er an: »Kfz-Mechatroniker mit abgeschlossener Lehre.« Offensichtlich ist er stolz auf seine berufliche Qualifikation.
    Kriminaloberkommissarin Marion Henske befragt ihn nach dem Geschehen am Vortag. »Sie waren allein mit Tyler Reese in der Wohnung. Was ist da passiert?«
    Der junge Mann schiebt den Unterkiefer vor. »Der Bengel hat nicht gehorcht, also habe ich ihm eine runtergehauen«, sagt er schließlich. »Ich wollte, dass er schläft, damit ich in Ruhe trainieren kann. Er sollte seinen Schlafanzug anziehen, aber er ist nur die ganze Zeit nackt um mich rumgesprungen – und da habe ich die Wut gekriegt.«
    Auf die Kriminalkommissarin macht Kevin Nocke keineswegs den Eindruck, als würde er seine Tat bereuen.
    »Und was haben Sie dann gemacht?«, fragt sie nach.
    »Ihm eine gescheuert, damit er spurt«, knurrt Kevin Nocke. »Vielleicht auch zwei oder drei. Das hat noch keinem geschadet!«, fügt er mit erhobener Stimme hinzu. »Glauben Sie vielleicht, ich hätte als Kind keine Prügel bekommen? Kinder brauchen manchmal Dresche, damit sie wieder in die Spur kommen – und Punkt. Aus mir ist ja schließlich auch was geworden!«
    Allerdings, sagt sich die Kommissarin. Ein Mann, der Kindern das antut, was ihm selbst als Kind angetan worden ist.
    »Sie haben Tyler Reese nicht nur zwei- oder dreimal eine gelangt«, hält sie Nocke vor. »Sie haben ihn fast zwanzig Mal
gebissen
 – unter anderem in den Penis. Haben Sie das auch gemacht, damit der Kleine spurt?«
    Doch davon will Nocke nichts wissen. Er schüttelt den Kopf und verweigert jede weitere Auskunft. Prügel müssten manchmal sein, wiederholt er nur immer wieder, und nichts sonst habe er gemacht.
    Die Staatsanwältin sieht das jedoch anders. Da zum Tatzeitpunkt außer Kevin Nocke kein Erwachsener in der Wohnung war, kommt nur er als Täter in Frage.
    Vor Gericht treten wir als rechtsmedizinische Sachverständige auf und erklären, dass die Verletzungen eindeutig vom Gebiss eines erwachsenen Menschen stammten. Außerdem weisen wir auf die Distanzlosigkeit von Tyler Reese hin, ein klarer Hinweis für körperliche Misshandlung.
    Doch während der Gerichtsverhandlung fällt Nadine