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Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)

Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)

Titel: Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)
Autoren: Michael Tsokos , Saskia Guddat
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zu legen. Denn aus Gewaltopfern werden Gewalttäter – und deren Prügelattacken, Messerangriffe oder Amokläufe können jeden treffen, egal ob er oder sie in einem Brennpunkt- oder in einem Villenviertel lebt.
    Die Erkenntnisse der Gewaltforscher sind so eindeutig wie alarmierend: Deutlich häufiger als der Durchschnitt werden misshandelte Kinder und Jugendliche selbst gewalttätig. Und: Sie sind überzeugt davon, dass sie das Recht haben, Gewalt auszuüben. Für sie scheint es selbstverständlich, die Verhaltensmuster, die sie als Kinder und Jugendliche in ihrer Familie erlernt haben, im Konflikt mit Altersgenossen oder auch später einmal gegenüber ihren eigenen Kindern als »Erziehungsmaßnahme« anzuwenden.
    So kommt die aktuelle Gewaltstudie zu dem Schluss, dass erschreckende 7  Prozent der befragten Kinder und Jugendlichen in hohem Maß gewalttätig sind. Diese Gruppe, von den Forschern als »die Extremen« bezeichnet, wurde überdurchschnittlich häufig Opfer von Gewalt, Missachtung und Vernachlässigung in ihren Familien. Die »Extremen« stammen überwiegend aus armen und bildungsfernen Milieus. Achtzig Prozent von ihnen sind Jungen.
    Bei weiteren 16  Prozent der untersuchten Kinder und Jugendlichen stellen die Forscher gleichfalls überdurchschnittliche Gewalttätigkeit fest. Diese Gruppe, genannt »die Piesacker«, entstammt eher privilegierten Milieus und besteht wiederum zu 70  Prozent aus Jungen. Die »Piesacker« haben als Kinder offenbar »moderate Gewalt« erfahren und verhalten sich ihrer Umwelt gegenüber gleichfalls überdurchschnittlich gewalttätig – was wiederum von den Eltern und anderen Erwachsenen toleriert zu werden scheint.
    Zusammengefasst heißt das: Für fast ein Viertel der Kinder und Jugendlichen in Deutschland ( 23  Prozent) ist Gewalttätigkeit alltägliche Realität. Und diese – als Opfer wie als Täter – gewalterfahrenen Minderjährigen stammen keineswegs mehrheitlich aus sozialen Brennpunktvierteln. Auch wenn in bessergestellten Familien oftmals weniger geprügelt als emotional misshandelt wird: durch Überforderung, Feindseligkeit und Verachtung.
    Auf seelische Kindesmisshandlung gehen wir weiter unten in diesem Kapitel ausführlicher ein. Hier soll zunächst anhand eines weiteren Fallbeispiels gezeigt werden, wie aus Gewaltopfern Gewalttäter werden – tagtäglich und hundertfach. Wie in einem Lehrfilm können Betreuer und Erzieher oftmals beobachten, wie sich das verprügelte Opfer in einen »verschlagenen« Gewalttäter verwandelt. Doch anstatt den Film anzuhalten, sehen sie allzu oft nur tatenlos zu.

Frühstart in die Gewaltkarriere
    Sascha Schmidtke ist acht Jahre alt, als er in einer sonderpädagogischen Lerngruppe untergebracht wird. In dieser Gruppe sollen Schüler mit Entwicklungsverzögerungen und sozial-emotionalen Einschränkungen Gelegenheit bekommen, ihre Defizite abzubauen. Unter ihnen sind häufig chronisch misshandelte Kinder: Körperliche und/oder emotionale Misshandlung führt fast immer zu Entwicklungsstillstand oder sogar zu Rückschritten bei der physischen und psychischen Entwicklung.
    Auch Sascha wird von seinem Vater chronisch misshandelt – abzulesen an den blauen Flecken, mit denen er immer wieder zur Lerngruppe erscheint.
    Die Lehrerin beobachtet eine Zeitlang, wie der Junge jedes Mal, wenn er selbst frische Verletzungen hat, seine Mitschüler besonders brutal attackiert. Er schlägt mit der Faust auf schwächere Jungen ein und tritt sie sogar dann noch, wenn sie am Boden liegen und um Hilfe schreien.
    Der Zusammenhang ist unübersehbar: Immer wenn Sascha zu Hause einstecken musste, teilt er anschließend aus. Zu Hause ist er der Schwächere, der verprügelt wird – hier in der Schule ist er in der Rolle des Mächtigen, und die anderen beziehen Dresche von ihm. So versucht er seine Opfer- und Ohnmachtserfahrungen durch Täter- und Machterlebnisse unmittelbar zu überschreiben. Und so übt er die Verhaltensmuster ein, die sicherstellen sollen, dass er selbst nie mehr zum hilflosen Opfer wird.
    Sascha ist erst ein paar Wochen in der Lerngruppe, als er eines Tages mit besonders schlimmen Blutergüssen erscheint. Zu diesem Zeitpunkt ist seine Mutter mit den kleineren Geschwisterkindern zur Kur. Alle sehen ihn erschrocken und mitleidig an – und da zieht Sascha ein Messer aus seiner Jacke und bedroht seine Mitschüler mit der Waffe. Glücklicherweise wird niemand verletzt.
    Zumindest diesmal noch nicht. Aber ein Junge, der schon
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