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Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)

Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)

Titel: Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)
Autoren: Michael Tsokos , Saskia Guddat
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Meller plötzlich ein, dass sie bei ihrer ursprünglichen Aussage etwas Wichtiges vergessen habe. Einen Tag bevor Tyler Reese verletzt in die Klinik gebracht wurde, seien zwei Freunde von Kevin zu Besuch gewesen. Und möglicherweise, so ganz genau könne sie sich leider nicht mehr erinnern, habe der Junge sich da schon seine Verletzungen zugezogen.
    Das Gericht spricht Kevin Nocke frei. Begründung: Nach dieser Kehrtwende der Kindsmutter sei nicht mehr auszuschließen, dass einer der Besucher vom Vortag Tyler Reese verletzt habe.
    Nadine Meller sieht keinen Anlass, sich von ihrem gewalttätigen Liebhaber zu trennen. Sie lebt nach wie vor mit Kevin Nocke zusammen.
    Auch der kleine Tyler Reese ist nach Hause zurückgekehrt. Das Jugendamt hat lediglich die Auflage erteilt, dass sich Kevin Nocke nicht allein mit dem Jungen in der Wohnung aufhalten darf.
    Die Bisswunden sind mittlerweile verheilt. Tyler Reeses seelische Verletzungen aber sind so präsent wie die seines Peinigers, der zum Täter wurde, um nicht mehr nur Opfer zu sein.

»Wer seine Kinder liebt, der züchtigt sie«
    Jahrtausendelang war es in unserer Kultur gang und gäbe, Kinder durch Körperstrafen zu »erziehen«. Das Alte Testament ist reich an Lobpreisungen der Prügel, die aus heutiger Sicht höchst befremdlich klingen. Väter, die ihre Söhne mit dem Stock schlugen, handelten im Einklang mit dem Gesetz – nicht nur mit dem menschlichen, sondern auch mit dem Gesetz Gottes.
»Wen der Herr liebt, den züchtigt er, wie ein Vater seinen Sohn, den er gern hat«,
heißt es beispielsweise in den
Sprüchen Salomos.
    Noch im 19 . Jahrhundert war es auch hierzulande selbstverständlich, dass Kinder zu Hause und in der Schule »körperlich gezüchtigt« wurden. Selbst Anfang der 1960 er-Jahre noch sprachen sich rund 80  Prozent der Eltern dafür aus, ihre Kinder zu schlagen. Immerhin 35  Prozent befürworteten sogar Prügel mit dem Rohrstock.
    Kein Zweifel: Wir leben in einer Kultur, in der Gewalt gegenüber Kindern – oder generell Gewalt – seit Anbeginn und bis vor wenigen Jahrzehnten selbstverständliche Wirklichkeit war. Bis in die 1950 er-Jahre durften deutsche Ehemänner »ihre« Frauen schlagen. Das »Züchtigungsrecht für Lehrkräfte an Schulen« wurde erst 1973 abgeschafft. Und ein Recht auf gewaltfreie Erziehung auch in der Familie haben Kinder hierzulande erst seit dem Jahr 2000 .
    In vielen Familien mit Migrationshintergrund gehört Gewalt noch heute zu den ganz normalen Erziehungsmaßnahmen. Die jungen Väter in Neukölln und Kreuzberg heißen nicht unbedingt Kevin, sondern etwa Kemal (türkisch) oder Kamal (arabisch). Aber mit den deutschstämmigen Kevins verbindet sie, dass ihr Beitrag zur Kindererziehung vornehmlich aus Schlägen besteht.
    Dabei sind sie sich meist nicht der geringsten Schuld bewusst – im Gegenteil. »Ich bin ja der Vater«, bekommen wir nicht selten von arabischen oder türkischen Männern zu hören, deren grün und blau geprügelte Kinder uns vorgeführt worden sind. »Da muss ich mich doch an der Erziehung meiner Kinder beteiligen!«
    Diese alttestamentarisch anmutende Einstellung ist keineswegs nur bei bildungsfernen Arabern oder Türken anzutreffen. Am Institut für Rechtsmedizin der Charité werden häufig ägyptische Gastärzte geschult. Wenn sie unsere Vorträge über Kindesmisshandlung hören, zeigen sich viele von ihnen verwundert, dass Körperstrafen in Deutschland als Mittel der Kindeserziehung verboten sind.
    »Bei uns darf man seine Kinder ja auch nicht totschlagen«, sagte einmal ein ägyptischer junger Arzt zu uns. »Aber wie erzieht ihr eure Kinder denn, wenn ihr sie nicht schlagt?« Und ein Kollege von ihm fügte hinzu: »Das ist doch schließlich mein Kind, das ich schlage, nicht das Kind meines Nachbarn.«
    Prügel sind zweifellos ein bewährtes Mittel, um den kindlichen Willen zu kontrollieren und Gehorsam zu erzwingen. Aber Kindesmisshandlung ist gleichzeitig die sicherste Methode, um Gewalttätigkeit – von Körperverletzung über Mord und Totschlag bis hin zu Bürgerkrieg und Krieg – von einer Generation zur nächsten zu »vererben«.

Vererbte Gewalt?
    In der Boulevardpresse ist immer wieder von einem angeblichen »Gewalt-Gen« die Rede, das die kriminelle Karriere notorischer Gewalttäter erklären soll. Das ist pseudowissenschaftlicher Unfug. Niemand wird als Gewalttäter geboren. Doch viele, viel zu viele Kinder werden in ihren Familien zu Gewalttätern gemacht – bis hin zu
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