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Sehnsucht

Sehnsucht

Titel: Sehnsucht
Autoren: Wolfgang R. Hantel-Quitmann
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Sehnsucht – Eine Einführung
    Erst jetzt, da dieser Durst gestillt ist,
    begreife ich, wie leer ich war.
    Und wie sehr ich, so viele Jahre lang,
    gehungert und gedürstet habe.
    Haruki Murakami
    Michihisisa Yamaguchi aus Tokio folgte der Sehnsucht und landete zwischen Kühen in einem französischen Bergdor f 1 . Als er 15 Jahre alt war verbrachte er als begeisterter Radrennfahrer viele Nächte vor dem Fernseher, weil er die Tour de France verfolgte. Und dabei sah er auch die Berge der Alpen, die Wiesen und die Kühe. Es war Liebe auf den ersten Blick, der Beginn einer diffusen Sehnsucht eines Tages Tokio zu verlassen und in den Bergen zu leben, ganz nah bei der Natur und den Tieren. Er studierte japanische Literatur, gab seine Hoffnung aber nie auf und verließ mit Mitte zwanzig seine Heimat. Von Frankreich kannte er nur das, was er in den Fernsehberichten über die Tour de France gesehen hatte und sprach kein Wort französisch. Keiner hatte geglaubt, dass er seine Pläne wahr machen würde. Nur meine Geschwister, die haben vielleicht schon immer gedacht, dass ich das wirklich machen würde, weil ich nie aufgehört habe, von der Tour und den Kühen zu reden.
    Also ging er im Jahre 2002 nach Frankreich, landete in Poitiers, machte dort erst einmal einen Sprachkurs und begann eine Käserausbildung. Bei der Bewerbung als Käser in der Fruitiere des Perrieres im Bergdorf Les Gets in den Savoyen war er der einzige Bewerber, der mit einem selbstgemachten Käse zum Vorstellungsgespräch kam – und er wurde genommen. Während derTour de France nimmt er sich immer frei, denn sie geht direkt an seiner Haustür vorbei. Beim letzten Mal schrieb er auf japanisch den Namen des einzigen japanischen Tourfahrers auf die Straße, daraufhin bekam er viel Post aus der Heimat, weil alle wussten, dass nur er das gewesen sein konnte. Vielleicht wird er eines Tages seinen Käse auch nach Japan verkaufen, denn die Laktoseintoleranz der Japaner soll ein Mythos sein; er jedenfalls isst abends im Restaurant der Käserei die Hälfte seiner Kostproben selbst. Und wenn er dann noch die Kühe auf den Wiesen besucht ist er glücklich und weiß, dass sich seine Sehnsüchte erfüllt haben.
    Wie kann man sich beim Verfolgen eines Radrennens im Fernsehen in eine Berglandschaft mit Kühen so verlieben, dass daraus eine Sehnsucht wird, der zuliebe man die Heimat verlässt, in ein vollkommen fremdes Land am anderen Ende der Welt geht und dort in einem Bergdorf einen Beruf ausübt, von dem man vorher noch nie gehört hat? Woher kommt solch eine Sehnsucht? Wie entsteht sie? Welche Kraft treibt sie an und wieso kann man sich ihrem Sog nicht entziehen, selbst wenn man es wollte? Wie können sich alle Lebensenergien der Seele an diese Idee binden, so dass sie fortan das Denken und Handeln eines Menschen beherrscht?
    Was ist Sehnsucht?
    Bei der Wahl des schönsten deutschen Wortes kam die Sehnsucht auf den dritten Platz. Sehnsucht ist der Name des deutschen Pavillons bei der Architektur-Biennale in Venedig, Sehnsucht ist der Name von Schiffen, Parfums und Modemarken, es ist ein ziehendes, schmerzliches Gefühl im Oberbauch, eine Phantasie im Hirn, die direkt mit tiefen Gefühlen verknüpft ist, eine Passion und Obsession, ein Schmerz und das Glück zugleich. Sehnsucht lässt die Zeit stillstehen und zugleich verfliegen. Es gibt die Sehnsucht nach der Kindheit, einem warmen Essen, einem sorglosen Leben, nach dem Authentischen, nach Wärme und Zärtlichkeit, Demokratie und Freiheit, Familie oder Freunden, der großenLiebe, der Natur, der Stille, dem Meistertitel, nach Größe, Einmaligkeit oder Macht, Sonne und Erholung, nach Blaubeerkuchen, dem starken Mann und Recht und Ordnung, nach Geborgenheit oder Gewissheit, Stabilität oder Sicherheit, Gott und Erlösung, Ruhe und Einsamkeit oder Leben und Trubel, nach der Ferne, dem Paradies oder dem Schrebergarten, einer verlorenen Liebesbeziehung, einem verstorbenen Freund oder auch die Sehnsucht nach der Sehnsucht.
    Sehnsüchte sagen zugleich viel über die Kultur, den Lebensraum, die sozialen Beziehungen und das Denken und Fühlen der Menschen aus. Eine Geschichte der Sehnsüchte ist insofern immer auch zugleich eine Kulturgeschichte der Völker. Denn so normal eine Sehnsucht für die einen ist, so absurd oder fern ist sie für die anderen. Während beispielsweise unbedarfte Mitteleuropäer
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