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Deutsches Elend. 13 Erklärungen zur Lage der Nation

Deutsches Elend. 13 Erklärungen zur Lage der Nation

Titel: Deutsches Elend. 13 Erklärungen zur Lage der Nation
Autoren: Arno Schmidt
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klingen mag : GELD!
    Die Einnahmen aus meinen bis jetzt zehn Büchern sind so gering, daß ich davon allein durchschnittlich einen, höchstens zwei Monate im Jahr existieren könnte; folglich muß ich – da ich weder ›Gottsucher‹ zu werden, noch vom ›Primat des Arbeiter= und Bauernstandes‹ zu schwärmen gedenke – in größtem Stil Brotarbeiten annehmen. Was für mich meist ›Übersetzen aus dem Englischen‹ bedeutet, (das sind nun auch schon 15 Bände); eine Tätigkeit, die, wenn man sie gut machen will, - und ich geb' mir Mühe ! – aber eben auch mit fast völliger Aufzehrung der Aufmerksamkeit verbunden ist, und für intrikate eigene Themen die erforderliche Energie nicht mehr übrig läßt. Da nun einerseits die formalen Schwierigkeiten der 2 Bücher, die zu schreiben ich allenfalls noch vorhätte, – und wenigstens das wird mir ja wohl auch mein enragiertester Gegner bescheinigen : daß ich mich auf einem unvergleichlichen Holzweg in Richtung Unverständlichkeit befinde – so groß sind, daß ich an dem ersten 3-5, dem zweiten, na sagen wir 7-10 Jahre zu basteln hätte; und ich andererseits nicht mehr als 10–15 % meiner Zeit darauf verwenden kann - tcha; da werde ich zu besagten beiden umfangreichen Stücken schwerlich noch kommen. Und damit bin ich bei meiner letzten aber größten, ja, allumfassenden Schwierigkeit angelangt, der ich mich, wie das Aufsatz thema heißt, ›beim Versuch, die Wahrheit zu schreiben, gegenüber sehe‹. –
    Zuweilen hat man es nicht nur genehmigt, sondern sogar eingesehen, daß ein Unterschied besteht, zwischen ›reiner‹ Mathematik, und ›angewandter‹; aber die Bereitschaft, der Literatur das gleiche zuzubilligen, habe ich so gut wie noch nie angetroffen. Es sei hier also einmal ausgesprochen, daß das Problem der heutigen (und künftigen) Prosa weder der feinsinnige noch der originelle noch der schockierende ›Stoff‹ ist – der ist dem ›Reinen‹, es mag kurios klingen, völlig uninteressant – sondern die übrigens längst fällige, systematische Entwicklung des Gerüstes, also die Anordnung der Prosaelemente, sowie deren Durcharbeitung und Verfeinerung selbst; wodurch in letzter Instanz weiter nichts erreicht werden soll, als eine präzisere Abbildung der Welt und des Menschen als bisher : GRÖSSERE WAHRHEIT!
    Zum Exempel bietet ein, bisher ganz ungenügend angegangenes (geschweige denn bewältigtes), Problem die überzeugende Wiedergabe des, jedem Menschen bekannten, ›Längeren Gedankenspiels‹ – also etwa wenn der weibliche Lehrling im Kaufhaus sich, nach der Formel ›Si j'etais Reine‹, vorgaukelt: sie wäre eine berühmte Tänzerin; und diese tröstliche ›Vorstellung‹ ein paar Wochen lang weiterführt. Es handelt sich dabei um einen, Jedermann geläufigen, offizi n ellen Vorgang; und er ist auch allgemein erkannt und genehmigt worden, obwohl seine geläufigste Bezeichnung als ›Tagtraum‹ schief, ja unhaltbar ist: das Längere Gedankenspiel liegt imgrunde, als sehr merkwürdiges Sondergebiet für sich, zwischen ›Traum‹ und ›Kunstwerk‹. Da ergibt es nun das allerinteressanteste, und eben gar nicht nur literarische Gemisch, das Zusammen= und Durcheinanderspiel des Alltags eines Menschen mit seinem Längeren Gedankenspiel getreulich abzubilden. Genau und rücksichtslos – also, mit anderen Worten : WAHR! – vorzuführen, was aus der Realität in die betreffende Seifenblasenwelt übernommen, beziehungsweise fantastisch ›berichtigt‹ wird à la ›corriger la fortune‹. Auch, wie dann, von einem gewissen Entwicklungsstadium des Längeren Gedankenspiels an, der Prozeß sich dahingehend erweitert, daß mutuelle Beeinflussung der beiden Erlebnisbereiche stattfindet.
    Um dem Leser die Einsicht in die wechselseitige Durchdringung dieser beiden Welten zu erleichtern, ist es erforderlich, bestimmte Druckanordnungen zu entwickeln, die ihm das Nachvollziehen am schnellsten erlauben
    – sein Buch absichtlich unverständlich macht nur der Narr oder der Scharlatan ! – Hier breche ich ab; war es doch nur mein Bestreben, eine ganz geringe Ahnung von den Schwierigkeiten des ›Reinen‹, ›beim Versuch die Wahrheit zu schreiben‹, zu vermitteln.
    Eines allerdings wird man – ich bitte ja nur um ein Ünzchen guten Willens – nun vielleicht schon etwas besser verstehn : nämlich meine, im Vorstehenden bereits ein Mal angedeutete Einstellung, daß der ›Inhalt‹, der dem Leser das Wichtigste däucht, für mich eine drittrangige
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