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Des Abends eisige Stille

Des Abends eisige Stille

Titel: Des Abends eisige Stille
Autoren: Susan Hill
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die möglicherweise verständnisvoller sein würde, mitfühlender, vertraulicher, offener. Die ihre Partei ergreifen würde.
    Rasch erhob sie sich. Die Vorstellung gab ihr neue Hoffnung und Energie. Es war das Einzige, was ihr noch blieb. Es war alles.
    Sie ging zurück in ihre Wohnung, plante die Fahrt, ihre Kleidung. Was sie sagen würde.

[home]
    66
    E s hätte Hochsommer sein können an diesem zwölften Mai, nur lag immer noch der frische Frühlingsgeruch in der Luft. Der alte Klosterhof der Kathedrale umschloss ein kleines, mit Gras bewachsenes Quadrat. Es war kein Friedhof, nur eine Gedächtnisstätte für Gemeindemitglieder, deren Erinnerungssteine flach auf dem Boden ausgelegt waren und ein Kreuz bildeten. Der von Martha Serrailler war einer der letzten an der südlichen Ecke.
    Sie standen in einem Streifen Sonnenlicht. Richard und Meriel. Cat und Chris mit ihren Kindern. Marthas Pate, ein alter Arztkollege von Richard, auf zwei Stöcke gestützt. Shirley und Rosa aus der Ivy Lodge.
    Und gerade als sie anfangen wollten, Simon, der sich neben seine Mutter stellte und Cats Blick auswich.
    Die Weihung war kurz und schlicht. Einfache Worte. Ein kurzer Bibeltext. Das erste Gebet. Cat sah hinunter auf die Platte.
»Martha Felicity Serrailler. 1977 – 2003. Selig sind, die reinen Herzens sind.«
    Drei kleine Sträuße weißer Blumen lagen neben der Platte, einer war von Ivo aus Australien.
    Nie ist er hier, dachte Cat – weder zu Hochzeiten noch zu Geburten oder Todesfällen, Festen oder Totenfeiern. Er könnte ebenso gut nicht zur Familie gehören. Warum? Was hatte ihn veranlasst, auf die andere Seite der Welt zu gehen und dort sieben Jahre zu bleiben, ohne ein einziges Mal nach Hause zu kommen?
    Sie fragte sich, ob er sich überhaupt noch an ihre Gesichter erinnerte. Sicherlich würde er so gut wie keine Erinnerungen an Martha haben.
    Cat selbst empfand jetzt nur wenig für das blonde, sprachlose Mädchen, das ihre Schwester gewesen war. Marthas Leben war abgekapselt gewesen und letztlich ein Rätsel. Vielleicht hatte Simon recht, und ihr Tod war ebenfalls ein Rätsel. Wer konnte das wissen?
    Sie wollte ihn ansehen und konnte nicht. Er hielt den Blick gesenkt. Er trug einen hellgrauen Anzug, in dem er älter hätte aussehen sollen, der ihn jedoch wie einen großgewachsenen Schuljungen wirken ließ. Sie blickte hinab auf Felix in seinem Tragekorb, der nichts von den Stimmen, dem Vogelgezwitscher und der Sonne auf seinem Gesicht wahrnahm, auch nicht die Tatsache, dass er in cremefarbene Seide und Spitzen gekleidet war, das Taufkleid der Serraillers.
    Ein plötzlicher Schmerz schoss ihr durchs Herz, wegen David Angus, wegen Martha.
    Wegen Simon. Nach der Taufe, im Haus ihrer Eltern, würde sie ihn beiseitenehmen, ihn von allen anderen weg in den Garten führen. Diesem dämlichen Streit musste ein Ende bereitet werden.
    »Lasst uns für Martha beten. Lasst uns das Mysterium ihres Lebens vor Gott bringen und sie Seiner Obhut anvertrauen. Herr, gib ihr das Verständnis Deiner Gegenwart, das Wissen Deiner Liebe und die Gnade Deines Schutzes und hilf ihr, zu einem neuen Leben mit Dir heranzuwachsen.«
    »Führe uns, o Herr, beim letzten Erwachen
    in das Haus und durch das Tor des Himmels.
    Um das Tor zu durchschreiten
    und in diesem Haus zu weilen;
    Wo es weder Finsternis noch Helligkeit gibt,
    sondern das eine Licht;
    Weder Lärm noch Stille, sondern die eine Musik;
    Weder Angst noch Hoffnung, sondern die eine Erfüllung;
    Weder Anfang noch Ende, sondern die eine Ewigkeit
    Im Reich Deiner Herrlichkeit und Herrschaft,
    Welt ohne Ende.«
    Sams kleine Stimme piepste vor den anderen durch die sonnenhelle Stille. »Amen.« Seine Schwester trat ihm auf den Fuß.
    Cat schaute auf. Simon hatte den Blick auf sie gerichtet und konnte ihn jetzt nicht mehr senken. Langsam breitete sich ein Lächeln über sein Gesicht.
     
    Sie gingen durch die Klosterhoftür in die Marienkapelle, die bereits mit Menschen gefüllt war, Paten und Freunden.
    Felix wachte auf, als er aus dem Tragekorb gehoben wurde, und lag in Karin McCaffertys Armen, die Augen geweitet vor Verwunderung über die flackernden Kerzen und das Glitzern von Gold und Blau an der Kapellendecke, dem Schimmern des silbernen Taufkrugs.
    Er japste kurz, als das Wasser ihn berührte, war dann aber wieder still und sah sich um.
    Hannah ließ ihre Kerze fallen. Sam grinste triumphierend.
    Sie gingen hinaus in den Sonnenschein des Mainachmittags und versammelten sich bewundernd um
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