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Des Abends eisige Stille

Des Abends eisige Stille

Titel: Des Abends eisige Stille
Autoren: Susan Hill
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Anfang an hatte sie innerlich gewusst, dass ihr Bruder tot war, und sie hatte das akzeptiert. Die ganze Zeit, während ihre Eltern ständig wiederholt hatten, sie würden nie die Hoffnung aufgeben, hatte Lucy sie betrachtet und Fremde in ihnen gesehen, die nicht zuhören wollten. David war tot. Wie konnte es anders sein?
    Es machte sie traurig, weil er immer dort in seiner eigenen kleinen Welt gewesen war, aber gleichzeitig Teil ihrer aller Welt, Teil ihrer eigenen. Sie mochte nicht daran denken, wie er gestorben war. Wenn diese Gedanken in ihren Kopf eindringen wollten, lenkte Lucy sie jedes Mal davon ab. Sie setzte sich auf das Fensterbrett und sah hinunter in den dunklen Garten. Ob man seine Leiche wohl jemals finden oder denjenigen erwischen würde, der ihn entführt hatte? Bei diesen Fragen empfand sie keine Gewissheit. Nur darüber, dass er tot war.
    Schließlich verkrampften sich ihre Beine, und sie rutschte vom Fensterbrett und glitt aus dem Zimmer ihres Bruders.
    Das Haus war wieder still. Tot. Sie wusste nicht, ob ihre Mutter ins Bett gegangen oder noch aufgeblieben war. Das war sie gewöhnt. Ihr Weglaufen hatte daran nichts geändert. In ihrem eigenen Zimmer legte sie sich ins Bett und dachte an Hunde. Archie. Ein anderer Hund. Ihr eigener Hund. Ihr Hund würde alles verändern.
    Sie schloss die Augen und stellte sich den perfekten Hund vor.
     
    Auf der anderen Seite des Flurs lag Marilyn in der gleichen Haltung im Bett. Aber sie glichen sich nicht. Das hatte sie nie gewollt. Sie hatte eigentlich auch nie ein Mädchen gewollt. Als sie mit Lucy schwanger war, hatte sie geglaubt, einen Jungen zu bekommen, sich nach einem Jungen gesehnt und war enttäuscht gewesen, als es keiner war. Sie erinnerte sich, wie sie ihre Tochter kurz nach der Geburt betrachtet hatte und jemanden mit kühnen, herausfordernden Augen und einem Gesicht wie ihrem eigenen erblickt hatte, mit einer gewissen Trotzhaltung. Zwangsläufig – obwohl darüber einige Tage vergingen – hatte sie Lucy geliebt. Wer liebt sein Erstgeborenes nicht? Nach einiger Zeit hatte sie es sogar genossen, ein Mädchen zu haben.
    Bei ihrer zweiten Schwangerschaft hatte sie nicht gewagt, etwas zu erwarten oder zu hoffen, hatte sich nur auf eine zweite Tochter eingestellt. David war eine freudige, wunderbare Überraschung gewesen. Neben ihm war alles und jeder andere in ihrer Welt zurückgetreten, schattenhaft und farblos geworden. Durch David fühlte sie sich als neuer Mensch wieder zum Leben erweckt, unbesiegbar, über alles geliebt. Abgesehen von seinem Verlust war ihr eigenes Schuldgefühl am schwersten zu ertragen. Sie hatte ihn zu sehr geliebt, ihn allen vorgezogen, und daher war er ihr genommen worden. Sie hatte sich bemüht, Lucy auch nach Davids Geburt zu lieben, und hatte sie auf eine gewisse Weise natürlich auch geliebt – aber es war nie wieder echte, tief empfundene, alles verschlingende Liebe gewesen. Wenn man ihre Tochter entführt und nie zurückgebracht hätte, wäre der Schmerz groß, aber erträglich gewesen, genau wie der Schmerz, Alan zu verlieren, erträglich war. Außerdem war sie wütend auf Alan, verärgert, weil er aufgegeben und sie im Stich gelassen hatte, und erstaunt über seine Schwäche.
    Kann ich einen Hund haben?
    Lucy hatte sie mit denselben hellen, stetigen, herausfordernden Augen angeschaut.
    Für den Moment waren sie allein zu zweit. Für den Moment war sonst niemand da. David würde sicherlich zurückkommen, sicherlich gefunden werden, egal, wie lange es dauerte. Sie konnte den Gedanken nicht an sich heranlassen, dass er verschwunden blieb. Wenn sie es zuließ, das wusste sie, würde sie in sich zusammenfallen und sich auflösen. Sie klammerte sich an die Zukunft, in der David da war, wie an einen dünnen, stahlharten Draht, der alles war, was sie vor dem Ertrinken bewahrte.
    Kann ich einen Hund haben?
    Sie hörte die kühle kleine Stimme, gefasst und vernünftig. Eigensinnig.
    Lucy war undurchsichtig. Marilyn war es nie gelungen, zu ihr durchzudringen, sie kennenzulernen, sie zu verstehen. Und es gelang ihr auch jetzt nicht.
    »David …«, sagte sie, drehte sich auf die Seite und rollte sich zusammen, die Arme um ihre Phantasievorstellung seines kleinen Körpers geschlungen, wie sie es immer tat, wenn sie sich hinlegte. Manchmal ging sie nur ins Bett, um das tun zu können.
    »Doodlebug.«
    Sie wusste nicht, ob sie einen Hund haben konnten.

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    H ast du den halben Nachmittag geweint?« Chris Deerborn hob
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