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Der Zitronentisch

Der Zitronentisch

Titel: Der Zitronentisch
Autoren: Julian Barnes
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gleichgültig.
    Der Spiegel wurde aufs Gesicht gelegt und der wichszeltartige Nylonmantel weggezogen. Eine Bürste wutschte an seinem Kragen hin und her. Dabei musste er an einen Jazz-Schlagzeuger mit gefühlvollen Handgelenken denken. Wutsch-wutsch. Sein Leben war doch noch lange nicht vorbei, oder?
    Der Laden war leer, und aus dem Radio kam immer noch ein klebriges Winseln, aber dennoch war die Stimme gedämpft, die nahe an seinem Ohr wisperte: »Noch etwas fürs Wochenende, Sir?«
    Am liebsten hätte er gesagt, yeah, ein Fahrschein nach London, ein Termin bei Vidal Sassoon, ein Paket Grillwürstchen, ein Kasten Ale, was Anständiges zu rauchen, Musik zum Betäuben der Sinne und eine Frau, die mich wirklich mag. Stattdessen dämpfte er selbst die Stimme und antwortete: »Ein Päckchen Durex, bitte.«
    Endlich zum Komplizen des Friseurs geworden, schritt er hinaus in den hellen Tag, und das Wochenende konnte beginnen.

[Menü]
3
    Bevor er aufbrach, ging er ins Bad, zog den Rasierspiegel an dem Teleskoparm nach vorn, drehte ihn auf die Schminkseite und holte die Nagelschere aus dem Kulturbeutel. Zuerst stutzte er ein paar lange, filzige Augenbrauenhaare, dann drehte er sich etwas zur Seite, sodass das Licht auf alles fiel, was ihm aus den Ohren spross, und machte ein-, zweimal schnipp. Leicht deprimiert schob er die Nase nach oben und betrachtete die Tunnelöffnungen. Nichts von übertriebener Länge, im Moment jedenfalls nicht. Er feuchtete eine Ecke des Waschlappens an, schrubbte sich hinter den Ohren, fuhr um die knorpeligen Gänge herum und stupste zum Schluss in die wächsernen Grotten. Als er sich im Spiegel betrachtete, waren seine Ohren durch das Reiben leuchtend rosa, als wäre er ein schüchterner Knabe oder ein Student, der keinen Mut hat zum Küssen.
    Wie hieß dieser Belag nochmal, der den feuchten Waschlappen weiß färbte? Er sagte Ohrschorf dazu. Ärzte hatten möglicherweise einen Fachausdruck dafür. Gab es Pilzinfektionen hinter dem Ohr, ein aurikulares Pendant zu Fußpilz? Nicht sehr wahrscheinlich: Die Gegend war zu trocken. Also war Ohrschorf vielleicht ganz okay; und vielleicht hatte jeder seinen eigenen Namen dafür, sodass man keine allgemeine Bezeichnung brauchte.
    Komisch, dass noch niemand einen neuen Namen für die Heckentrimmer und Baumskulpteure erfunden hatte. Erst Haarschneider, dann Friseure. Aber wann hatten sie je Männern die Haare »frisiert«? Stylisten? Hochgestochen. »Lockendreher«? Bemüht witzig. Genau wie der Ausdruck, den er neuerdings Allie gegenüber verwendete. »Ich geh mal kurz zum Glatzenstriegler«, verkündete er.
    »Ähm, um drei Uhr bei Kelly.«
    Ein indigoblauer Fingernagel hangelte sich durch eine Reihe mit Bleistift geschriebener Großbuchstaben. »Ja. Gregory?«
    Er nickte. Als er beim ersten Mal telefonisch einen Termin ausmachte und nach dem Namen gefragt wurde, hatte er »Cartwright« geantwortet. Am anderen Ende war Schweigen, darum hatte er gesagt: »Mister Cartwright«, bevor ihm klar wurde, was es mit dem Schweigen auf sich hatte. Jetzt sah er sich verkehrt herum im Terminplan stehen: GREGGORY.
    »Kelly ist in einer Minute bei dir. Geh schon mal zum Waschen.«
    Nach so vielen Jahren hatte er immer noch Mühe, sich in diese Position zu begeben. Vielleicht wollte seine Wirbelsäule nicht mehr so recht. Die Augen halb geschlossen, tastete man mit dem Nacken nach dem Beckenrand. Wie Rückenschwimmen, ohne dass man wusste, wo das Bassin zu Ende war. Und dann lag man da, den Hals von kaltem Porzellan gestützt und die Kehle preisgegeben. Verkehrt herum, in Erwartung des Messers der Guillotine.
    Ein dickes Mädchen mit uninteressierten Händen machte die übliche Konversation mit ihm – »Ist das zu heiß?« »Warst du im Urlaub?« »Willst du Conditioner?«
    – und bemühte sich dabei halbherzig, mit der hohlen Hand das Wasser von seinen Ohren fern zu halten. Im Laufe der Zeit hatte er sich beim Glatzenstriegler eine halb belustigte Passivität angewöhnt. Als eine dieser rot gesichtigen Azubis das erste Mal fragte »Willst du Condi tioner?«, hatte er »Was meinst du?« geantwortet, weil er glaubte, ihre höhere Sicht auf seinen Schädel befähige sie zu einem besseren Urteil über seine Bedürfnisse. Schiere Logik legte den Schluss nahe, wenn etwas »Conditioner« hieß, konnte es die Kondition der Haare nur verbessern; aber andererseits, was sollte die Frage, wenn die Antwort eigentlich schon feststand? Doch Bitten um Rat stifteten nur Verwirrung und
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