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Der Zitronentisch

Der Zitronentisch

Titel: Der Zitronentisch
Autoren: Julian Barnes
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Mäzene hatten, produzierten sie Musik, und solange sie das taten, wurden sie auch ernährt. Jetzt schickt man mir Lebensmittel, und als Antwort da rauf produziere ich Musik. Das System ist willkürlicher.
    Diktonius nannte meine Vierte eine »Rindenbrotsymphonie«, eine Anspielung auf die alten Zeiten, als die Armen ihr Mehl mit fein gemahlener Baumrinde zu strecken pflegten. Das ergab Laibe, die nicht von feinster Qualität waren, aber im Allgemeinen vor dem Hungertod bewahrten. Kalisch meinte, die Vierte sei Ausdruck einer durch und durch griesgrämigen und freudlosen Lebensauffassung.
    Als ich jung war, konnte Kritik mich verletzen. Heutzutage lese ich, wenn ich niedergeschlagen bin, noch einmal, was über mein Werk Unfreundliches geschrieben wurde, und das erheitert mich ungemein. Ich erkläre meinen Kollegen: »Denkt immer daran, in keiner Stadt der Welt wurde einem Kritiker ein Denkmal gesetzt.«
    Bei meiner Beerdigung wird der langsame Satz der Vierten gespielt werden. Und begraben werden möchte ich mit einer Zitrone in der Hand, die diese Noten ge schrieben hat.
    Nein, A. würde mir die Zitrone aus der toten Hand nehmen, wie sie die Whiskyflasche aus der lebenden nimmt. Aber sie wird sich meiner Anordnung über die »Rindenbrotsymphonie« nicht widersetzen.
    Kopf hoch! Der Tod ist nicht mehr fern.
    Meine Achte, das ist alles, wonach sie mich fragen. Wann, Maestro, wird sie beendet sein? Wann dürfen wir sie drucken? Vielleicht nur den ersten Satz? Werden Sie K. anbieten, sie zu dirigieren? Warum haben Sie so lange dafür gebraucht? Warum legt die Gans keine goldenen Eier mehr für uns?
    Meine Herren, vielleicht gibt es eine neue Symphonie, vielleicht auch nicht. Ich habe zehn, zwanzig, fast dreißig Jahre dafür gebraucht. Vielleicht brauche ich mehr als dreißig. Vielleicht ist auch nach Ablauf von dreißig Jahren nichts da. Vielleicht endet sie im Feuer. Feuer, dann Stille. So endet schließlich alles. Doch missverstehen Sie mich richtig, meine Herren. Nicht ich wähle die Stille. Die Stille wählt mich.
    A.s Namenstag. Sie wünscht, dass ich Pilze suchen gehe. In den Wäldern reifen die Morcheln. Nun, das ist nicht meine Stärke. Dennoch, mit Arbeit sowie Begabung und Mut fand ich eine einzige Morchel. Ich pflückte sie, hob sie an die Nase, schnupperte daran und legte sie ehrerbietig in A.s Körbchen. Dann wischte ich mir die Tannen nadeln von den Manschetten und ging, da ich meine Pflicht erfüllt hatte, nach Hause. Später spielten wir vierhändig Klavier. Sine alc.
    Ein großes auto da fe von Manuskripten. Ich sammelte sie in einem Wäschekorb und verbrannte sie in A.s Beisein in dem offenen Kamin im Speisezimmer. Nach einer Weile konnte sie es nicht mehr ertragen und ging. Ich setzte das gute Werk fort. Am Ende war ich ruhiger und fröhlicher. Es war ein glücklicher Tag.
    Nichts geht mehr so schnell wie früher … Stimmt. Doch was berechtigt uns zu der Erwartung, der letzte Satz des Lebens werde ein Rondo allegro sein? Welche Tempobezeichnung wäre am besten? Maestoso ? Dieses Glück wird nur wenigen zuteil. Largo – immer noch ein wenig zu würdevoll. Largamente e appasionato ? So könnte ein letzter Satz beginnen – wie in meiner eigenen Ersten. Im wirklichen Leben mündet das jedoch nicht in ein Allegro molto , bei dem der Dirigent das Orchester anpeitscht, sodass es schneller und lauter spielt. Nein, im letzten Satz des Lebens steht ein Säufer auf dem Podium, ein alter Mann, der seine eigene Musik nicht erkennt, ein Narr, der eine Probe nicht von einer Aufführung unterscheiden kann. Wie wär’s mit der Anweisung Tempo buffo ? Nein, ich hab’s. Wir geben lediglich sostenuto an und überlassen die Entscheidung dem Dirigenten. Schließlich lässt sich die Wahrheit auf mehr als nur eine Art ausdrücken.
    Heute machte ich meinen gewohnten Morgenspazier gang. Ich stand auf dem Hügel und schaute nach Norden. »Vögel meiner Jugend!«, rief ich dem Himmel entgegen. »Vögel meiner Jugend!« Ich wartete. Der Tag war wol kenschwer, doch ausnahmsweise flogen die Kraniche un ter den Wolken. Als sie näher kamen, löste sich einer aus dem Schwarm und flog direkt auf mich zu. Zum Zeichen des Beifalls hob ich die Arme, während er einen langsa men Kreis um mich zog, seinen Schrei trompetete und dann kehrtmachte, um sich für die lange Reise gen Süden wieder seinem Schwarm anzuschließen. Ich schaute ihm nach, bis meine Augen verschwommen sahen, ich lausch te, bis meine Ohren nichts mehr hörten und
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