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Der Zitronentisch

Der Zitronentisch

Titel: Der Zitronentisch
Autoren: Julian Barnes
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das Alter für einen Komponisten ist! Nichts geht mehr so schnell wie früher, und die Selbstkritik nimmt unvorstellbare Ausmaße an. Die anderen sehen nur Ruhm, Applaus, offizielle Diners, eine Ehrenpension, eine liebevolle Familie, Anhänger jenseits der Meere. Sie vermerken, dass ich meine Schuhe und Hemden in Ber lin machen lasse. An meinem achtzigsten Geburtstag kam mein Gesicht auf eine Briefmarke. Der homo diurnalis hat Respekt vor diesen Insignien des Erfolgs. Ich aber halte den homo diurnalis für die niedrigste Form menschlichen Lebens.
    Ich erinnere mich an den Tag, an dem mein Freund Toivo Kuula in der kalten Erde zur Ruhe gebettet wurde. Er war von Soldaten des Jägerbataillons in den Kopf geschossen worden und ein paar Wochen später gestorben. Auf der Beerdigung sann ich über das unermessliche Elend eines Künstlerschicksals nach. So viel Arbeit, Begabung und Mut, und dann ist alles vorbei. Missverstanden und dann vergessen zu werden, das ist des Künstlers Los. Mein Freund Lagerborg ist ein Anhänger von Freud, der meint, der Künstler benutze die Kunst, um der Neurose zu entgehen. Kreativität schaffe eine Kompensation für die Unfähigkeit des Künstlers, das Leben voll auszukosten. Nun, das ist nichts als eine Weiterentwicklung von Wag ners Ansicht. Wagner behauptet, wenn wir das Leben voll und ganz genössen, hätten wir kein Bedürfnis nach Kunst. Meiner Meinung nach zäumen sie das Pferd beim Schwanz auf. Natürlich bestreite ich nicht, dass der Künstler viele neurotische Seiten hat. Wie könnte ausgerechnet ich das bestreiten? Ich bin zweifellos neurotisch und oft genug unglücklich, aber das ist weitgehend eine Folge dessen, dass ich ein Künstler bin, und nicht die Ursache. Wie soll te es keine Neurose hervorrufen, wenn wir uns so heh re Ziele setzen und so oft dahinter zurückbleiben? Wir sind keine Straßenbahnschaffner, die nur danach trachten, Löcher in Fahrkarten zu knipsen und die Stationen rich tig auszurufen. Außerdem ist meine Antwort an Wagner höchst einfach: Wie kann ein voll ausgekostetes Leben nicht eine seiner vornehmsten Freuden einschließen, und das ist die Würdigung der Kunst.
    Die freudschen Theorien lassen die Möglichkeit außer Acht, dass das Ringen des Symphonikers – um ewig gültige Gesetze für die Bewegung von Tönen zu erkennen und ihnen dann Ausdruck zu verleihen – eine etwas größere Leistung ist, als für König und Vaterland zu sterben. Das können viele, und Kartoffelnpflanzen und Fahrkartenknipsen und andere, ähnlich nützliche Dinge bringen noch viel mehr Leute zustande.
    Wagner! Seine Götter und Heroen verursachen mir seit fünfzig Jahren körperliches Unbehagen.
    In Deutschland sollte ich mir neue Musik anhören. Ich sagte: »Sie fabrizieren bunte Cocktails in allen Farben. Und ich komme mit klarem kalten Wasser.« Meine Musik ist geschmolzenes Eis. In ihrer Bewegung kann man ihre frostigen Anfänge entdecken, in ihren Klängen ihre ursprüngliche Stille.
    Ich wurde gefragt, welches fremde Land mein Werk am wohlwollendsten aufnehme. Ich antwortete, England. Es ist das Land ohne Chauvinismus. Bei einem Besuch wurde ich von dem Grenzbeamten erkannt. Ich traf Mr Vaughan Williams; wir unterhielten uns auf Französisch, der einzigen Sprache außer der Musik, die wir gemeinsam hatten. Nach einem Konzert hielt ich eine Rede. Ich sagte, ich habe viele Freunde hier und natürlich, so hoffe ich, auch Feinde. In Bournemouth machte mir ein Musikstudent seine Aufwartung und erwähnte in aller Unschuld, er könne es sich nicht leisten, nach London zu fahren und meine Vierte zu hören. Ich griff in die Tasche und sagte: »Ich gebe Ihnen ein Pfund Sterling .«
    Meine Instrumentierung ist besser als die Beethovens, und meine Themen sind besser. Aber er wurde in einem Weinland geboren, ich in einem Land, in dem Sauermilch das Regiment führt. Ein Talent, um nicht zu sagen Genie, wie das meine kann sich nicht von Quark nähren.
    Während des Kriegs schickte der Architekt Nordman mir ein Päckchen in Form eines Geigenkastens. Es war tatsächlich ein Geigenkasten, aber es lag eine geräucherte Lammhachse darin. Aus Dankbarkeit komponierte ich La Folie de Fridolin und schickte es Nordman. Ich wusste, dass er ein begeisterter a-cappella – Sänger ist. Ich dankte ihm für le délicieux violon . Später ließ mir jemand eine Kiste Lampreten zukommen. Ich revanchierte mich mit einem Choral. Ich dachte bei mir, dass jetzt alles auf den Kopf gestellt ist. Als Künstler
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