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Der Zitronentisch

Der Zitronentisch

Titel: Der Zitronentisch
Autoren: Julian Barnes
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und meine Hand umklammert leere Luft. A. hat den Whisky weggeräumt, während ich schlief. Wir reden nicht darüber.
    Der Alkohol, den ich einst aufgab, ist jetzt mein treuester Kamerad. Und der verständnisvollste!
    Ich gehe alleine zum Essen aus, um über die Sterblichkeit nachzusinnen. Oder ich gehe ins Kämp, ins Societetshuset, ins König und diskutiere mit anderen darüber. Über diese seltsame Angelegenheit des »Man lebt nur einmal«. Im Kämp setze ich mich an den Zitronentisch. Dort ist es erlaubt – ja, Pflicht –, über den Tod zu sprechen. Es geht sehr gesellig zu. A. billigt das nicht.
    Bei den Chinesen gilt die Zitrone als Todessymbol. Dieses Gedicht von Anna Maria Lenngren – »Begraben mit einer Zitrone in der Hand«. Genau. A. würde das für morbide halten und mir verbieten wollen. Doch wer darf morbide sein, wenn nicht eine Leiche?
    Heute habe ich die Kraniche gehört, aber nicht gesehen. Die Wolken hingen zu tief. Doch als ich dort auf dem Hügel stand, drangen aus der Höhe die kehligen Schreie zu mir herunter, die sie ausstoßen, wenn sie für den Sommer gen Süden ziehen. Unsichtbar waren sie sogar noch schöner, noch geheimnisvoller. Sie lehren mich immer von neuem, was Wohlklang ist. Ihre Musik, meine Musik, Musik überhaupt ist nichts weiter als das: Man steht auf einem Hügel und hört hinter den Wolken herzzerreißende Töne. Musik – selbst meine Musik – zieht immer gen Süden, unsichtbar.
    Wenn Freunde mich verlassen, weiß ich heutzutage nicht mehr, ob sie mir meinen Erfolg oder mein Versagen verübeln. So ist das im Alter.
    Vielleicht bin ich ein schwieriger Mensch, aber so schwierig denn doch nicht. Mein Leben lang wusste man immer, wo man mich finden konnte, wenn ich verschwunden war – im besten Restaurant, das Austern und Champagner auftischt.
    Bei meinem Besuch in den Vereinigten Staaten war man überrascht, dass ich mich zeit meines Lebens nie selbst rasiert habe. Man nahm es auf, als wäre ich so etwas wie ein Aristokrat. Aber das bin ich nicht und gebe es nicht einmal vor. Ich habe lediglich beschlossen, nie meine Zeit damit zu verschwenden, dass ich mich selbst rasiere. Sollen andere das für mich erledigen.
    Nein, das ist nicht wahr. Ich bin ein schwieriger Mensch, wie mein Vater und mein Großvater. Mein Fall ist schlimmer, weil ich ein Künstler bin. Und obendrein eine überaus treue und überaus verständnisvolle Gefährtin habe. Es gibt nur selten einen Tag, den ich mit sine alc. bezeichnen kann. Man kann nicht gut Noten schreiben, wenn einem die Hände zittern. Man kann auch nicht gut dirigieren. A.s Leben mit mir ist in vielerlei Hinsicht ein Martyrium geworden. Das gebe ich zu.
    Gothenburg. Vor dem Konzert war ich verschwun den. An dem gewohnten Ort war ich nicht zu finden. A. war mit den Nerven am Ende. Sie ging trotzdem in den Konzertsaal und verlegte sich aufs Beten. Zu ihrem Er staunen kam ich pünktlich herein, verbeugte mich, hob mein Stöckchen. Nach den ersten Takten der Ouvertü re, erzählte sie mir, klopfte ich ab, als wäre es eine Pro be. Das Publikum war verwirrt, das Orchester erst recht. Dann gab ich erneut den Einsatz und fing noch einmal von vorne an. Was dann folgte, versicherte sie mir, war das reinste Chaos. Das Publikum war begeistert, die nachfol genden Presseberichte waren respektvoll. Aber ich glaube
    A. Nach dem Konzert stand ich mit Freunden vor dem Konzertgebäude, zog eine Whiskyflasche aus der Tasche und zerschlug sie auf der Treppe. Ich habe keinerlei Erinnerung daran.
    Als wir wieder zu Hause waren und ich friedlich meinen Morgenkaffee trank, gab sie mir einen Brief. Nach dreißigjähriger Ehe schrieb sie mir in meinem eigenen Haus einen Brief. Ihre Worte haben mich seither immer begleitet. Sie erklärte mir, ich sei ein nichtsnutziger Schwächling, der sich vor Problemen in den Alkohol flüchte; ein Schwächling, der sich einbilde, das Trinken würde ihm helfen, neue Meisterwerke zu schaffen, sich darin aber bitterlich täusche. Auf jeden Fall werde sie sich niemals wieder der öffentlichen Demütigung aussetzen, mich in betrunkenem Zustand dirigieren zu sehen.
    Ich erwiderte kein Wort, weder schriftlich noch mündlich. Ich versuchte, mit Taten zu antworten. Sie hielt Wort und begleitete mich weder nach Stockholm noch nach Kopenhagen oder Malmö. Ich trage ihren Brief ständig bei mir. Ich habe den Namen unserer ältesten Tochter auf den Umschlag geschrieben, damit sie nach meinem Tod weiß, was da gesagt wurde.
    Wie furchtbar
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