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Der Zitronentisch

Der Zitronentisch

Titel: Der Zitronentisch
Autoren: Julian Barnes
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Vater liegt jetzt seit zwei Monaten im Krankenhaus. Nach drei Tagen hat er das Bewusstsein wiederer langt, aber seitdem macht er nur wenig Fortschritte. Bei seiner Einlieferung hatte der Arzt zu mir gesagt: »In dem Alter reicht manchmal leider eine Kleinigkeit.« Inzwi schen hat mir ein anderer Arzt taktvoll zu verstehen gege ben, es sei »ein Fehler, zu viel zu erwarten«. Mein Vater ist linksseitig gelähmt, leidet unter schwerem Gedächtnisver lust und Sprachstörungen, kann nicht mehr alleine essen und ist weitgehend inkontinent. Seine linke Gesichtshälf te ist so verzerrt, dass sie aussieht wie Baumrinde, aber die Augen schauen so klar und graublau wie eh und je, und seine weißen Haare sind immer sauber und gut gebürstet. Ich kann nicht erkennen, wie viel er versteht, wenn ich et was sage. Einen bestimmten Satz kann er gut artikulieren, doch ansonsten spricht er wenig. Die Vokale pressen sich gedehnt aus seinem schiefen Mund, und sein Blick ver rät Scham über seine verstümmelte Ausdrucksfähigkeit. Meist ist es ihm lieber, wenn Stille herrscht.
    Montags, mittwochs, freitags und sonntags besucht meine Mutter ihn und macht so ihr eheliches Recht auf vier von sieben Tagen geltend. Sie bringt ihm Trauben und die Zeitung vom Vortag mit, und wenn er aus dem linken Mundwinkel sabbert, zieht sie ein Papiertaschentuch aus der Schachtel auf seinem Nachttisch und tupft ihm die Spucke ab. Falls ein Zettel von Elsie auf dem Tisch liegt, zerreißt sie ihn, und er tut so, als würde er nichts merken. Sie erzählt ihm von ihrer gemeinsamen Vergangenheit, von ihren Kindern und ihren gemeinsamen Erinnerungen. Wenn sie geht, schaut er ihr nach und sagt sehr deutlich zu jedem, der es hören will: »Meine Frau, wissen Sie. So viele glückliche Jahre.«
    Dienstags, donnerstags und samstags besucht Elsie meinen Vater. Sie bringt ihm Blumen und selbst gemachten Karamell mit, und wenn er sabbert, holt sie ein weißes Spitzentaschentuch mit einem roten, gestickten E aus der Tasche. Sie wischt ihm das Gesicht mit offenkundiger Zärtlichkeit ab. Seit neuestem trägt sie am Ringfinger der rechten Hand einen Ring, der so ähnlich aussieht wie der, den sie noch immer von Jim Royce an der linken Hand trägt. Sie erzählt meinem Vater von der Zukunft, dass er wieder gesund wird und wie sie dann zusammenleben werden. Wenn sie geht, schaut er ihr nach und sagt sehr deutlich zu jedem, der es hören will: »Meine Frau, wissen Sie. So viele glückliche Jahre.«

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DIE STILLE
    Ein Gefühl immerhin wird mit jedem vergehenden Jahr stärker in mir – die Sehnsucht, die Kraniche zu sehen. Zu dieser Jahreszeit stehe ich auf dem Hügel und beobachte den Himmel. Heute sind sie nicht gekommen. Es waren nur Wildgänse da. Gänse wären schöne Tiere, wenn es keine Kraniche gäbe.
    Ein junger Mann von einer Zeitung half mir, die Zeit zu vertreiben. Wir sprachen über Homer, wir sprachen über Jazz. Er wusste nicht, dass meine Musik in The Jazz Singer verwendet wurde. Manchmal finde ich die Unwissenheit der Jugend erregend. Diese Unwissenheit ist eine Art von Stille.
    Nach zwei Stunden fragte er verstohlen nach neuen Kompositionen. Ich lächelte. Er fragte nach der Achten Symphonie. Ich verglich Musik mit den Flügeln eines Schmetterlings. Er sagte, Kritiker klagten darüber, dass ich mich »ausgeschrieben« habe. Ich lächelte. Er sagte, manch einer – er selbst natürlich nicht – werfe mir vor, ich vernachlässige meine Pflichten und ließe mich noch vom Staat dafür bezahlen. Er fragte, wann meine neue Symphonie denn nun fertig werde. Ich lächelte nicht mehr. »Sie selbst hindern mich ja daran, sie fertig zu stellen«, antwortete ich und läutete die Glocke, um ihn hinausführen zu lassen.
    Ich hätte ihm gern erzählt, dass ich als junger Kom ponist einmal ein Stück für zwei Klarinetten und zwei Fagotte geschrieben hatte. Dies zeugte von erheblichem Optimismus meinerseits, da es damals nur zwei Fagottis ten im ganzen Land gab, und einer davon war schwindsüchtig.
    Die Jugend ist auf dem Weg nach oben. Meine natürlichen Feinde! Man will eine Vaterfigur für sie sein, und sie scheren sich den Teufel darum. Vielleicht mit gutem Grund.
    Der Künstler wird von Natur aus missverstanden. Das ist normal, und nach einer Weile gewöhnt man sich daran. Ich wiederhole nur, und darauf bestehe ich: Missverstehen Sie mich richtig.
    Ein Brief von K. aus Paris. Er macht sich Sorgen wegen der Tempivorgaben. Er muss meine Bestätigung haben. Er braucht
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