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Der Zitronentisch

Der Zitronentisch

Titel: Der Zitronentisch
Autoren: Julian Barnes
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rätselhafte Gespräche mit ihnen, spielten sich auf, als legten sie Wert auf diese Kundschaft. Die alten Knacker trugen auch im Sommer Mantel und Schal und gaben beim Hinausgehen ein Trinkgeld. Gregory beobachtete diese Transaktion aus dem Augenwinkel heraus. Ein Mann gab einem anderen Geld, ein verstohlener halber Händedruck, bei dem beide so taten, als wäre die Übergabe nicht geschehen.
    Knaben gaben kein Trinkgeld. Vielleicht war das der Grund, warum Haarschneider Knaben hassten. Sie bezahlten weniger, und sie gaben kein Trinkgeld. Außerdem hielten sie nicht still. In Wirklichkeit sagten ihre Mütter, sie sollten stillhalten, sie hielten still, aber das hinderte den Haarschneider nicht daran, ihnen mit einer Handflä che, so hart wie die Flachseite eines Beils, auf den Kopf zu schlagen und zu murmeln: » Stillhalten .« Man hörte Ge schichten von Knaben, denen die Ohrläppchen abgesäbelt worden waren, weil sie nicht stillgehalten hatten. Bei dem Wort Halsabschneider musste Gregory immer an Rasier messer denken. Alle Friseure waren Irre.
    »Wölfling, ja?« Es dauerte eine Weile, bis Gregory begriff, dass er angesprochen war. Dann wusste er nicht, ob er den Kopf unten lassen oder hochschauen und den Friseur im Spiegel ansehen sollte. Schließlich ließ er den Kopf unten und sagte: »Nein.«
    »Schon Pfadfinder?«
    »Nein.«
    »Kreuzfahrer?«
    Gregory wusste nicht, was das war. Er wollte den Kopf heben, aber der Haarschneider klopfte ihm mit dem Kamm auf den Schädel. » Stillhalten , hab ich gesagt.« Gregory fürchtete sich so vor diesem Irren, dass er nicht antworten konnte, was der Haarschneider als Verneinung auffasste. »Prachtvolle Organisation, die Kreuzfahrer. Denk mal drüber nach.«
    Gregory dachte, da wird man von den Krummschwertern der Sarazenen zerstückelt, mitten in der Wüste an einen Pfahl gebunden und bei lebendigem Leib von Amei sen und Geiern aufgefressen. Doch erst einmal ließ er die kalte Glätte der Schere über sich ergehen – sie war immer kalt, auch wenn sie gar nicht kalt war. Mit fest geschlos senen Augen ertrug er die kitzlige Folter von Haaren, die ihm ins Gesicht fielen. Er saß immer noch da ohne hinzuschauen und fest überzeugt, dass der Haarschnei der schon längst hätte aufhören sollen, aber so ein Irrer wie der würde wahrscheinlich ewig weiterschnippeln, bis Gregory eine Glatze hatte. Nun kam noch das Abziehen des Rasiermessers, was bedeutete, dass gleich der Hals abschneider eingesetzt würde; das trockene Kratzen der Klinge an den Ohren und im Nacken; der Fliegenwedel, der ihm in Augen und Nase fuhr, um die Haare heraus zuwischen.
    Das machte jedes Mal Angst. Es gab aber noch Gruseligeres hier. Er hatte den Verdacht, dass das unanständig war. Alles, was man nicht verstand oder nicht verstehen sollte, war in der Regel unanständig. So wie die Barbierstange. Die war eindeutig unanständig. In dem früheren Salon hatte es nur einen alten angemalten Holzpflock mit farbigen Streifen gegeben. Hier war die Stange elektrisch betrieben und drehte sich ständig wirbelnd im Kreis herum. Das ist noch unanständiger, dachte er. Dann war da dieser Behälter mit Illustrierten. Von denen waren bestimmt auch einige unanständig. Alles war unanständig, wenn man es dazu machen wollte. Das war die große Wahrheit des Lebens, die er gerade entdeckt hatte. Nicht, dass ihn das gestört hätte. Gregory mochte unanständige Sachen.
    Ohne den Kopf zu bewegen, betrachtete er im Nachbarspiegel einen Rentner zwei Stühle weiter. Der hatte die ganze Zeit mit so einer lauten Stimme gerattert, wie alte Knacker sie immer hatten. Nun beugte sich der Haarschneider mit einer kleinen Kugelspitzenschere über ihn und schnitt ihm Haare aus den Augenbrauen. Dann machte er dasselbe mit den Nasenlöchern, dann den Ohren. Schnippelte ihm große Sprossen aus den Lauschern. Absolut ekelhaft. Zum Schluss tupfte er dem alten Knacker Puder in den Nacken. Wozu das wohl gut war?
    Jetzt hatte der Foltermeister die Haarschneidemaschi ne gezückt. Das mochte Gregory auch nicht. Manchmal nahmen sie eine handbetriebene Maschine und fuhren ihm wie mit einem Dosenöffner quietsch-knirsch, quietsch-knirsch oben um den Schädel rum, bis sein Gehirn bloßlag. Aber das hier war so ein surrender Apparat, und der war noch schlimmer, weil man davon einen tödlichen Stromschlag bekommen konnte. Er hatte sich das schon hundertmal vorgestellt. Der Haarschneider surrt drauflos, merkt gar nicht, was er da tut, hasst dich sowieso,
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