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Der Zitronentisch

Der Zitronentisch

Titel: Der Zitronentisch
Autoren: Julian Barnes
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weil du ein Knabe bist, schneidet dir ein Stück vom Ohr ab, das Blut läuft über die Haarschneidemaschine, es gibt einen Kurzschluss, du kriegst einen Schlag und bist auf der Stelle tot. Bestimmt schon Millionen Mal passiert. Und der Haarschneider kam immer mit dem Leben davon, weil er Schuhe mit Gummisohlen anhatte.
    In der Schule schwammen sie nackt. Mr Lofthouse trug einen bauschigen Schurz, damit sie seinen Schwanz nicht sehen konnten. Die Jungen zogen sich ganz aus, duschten sich gegen Läuse oder Warzen oder was auch immer, oder weil sie stanken, so wie Wood, dann sprangen sie ins Becken. Erst sprang man hoch, und bei der Landung klatschte einem das Wasser an die Eier. Das war unanständig, darum durfte der Lehrer das nicht sehen. Das Wasser zog einem die Eier zusammen, wodurch der Puller noch weiter rausstand, und hinterher trockneten sie sich ab und guckten sich gegenseitig an, ohne richtig hinzuschauen, mehr so von der Seite, wie in dem Spiegel beim Haarschneider. Alle in der Klasse waren gleich alt, aber manche waren untenrum noch ganz kahl; einige hatten wie Gregory oben einen Querstreifen von Haaren, aber nichts an den Eiern; und andere wie Hopkinson und Shapiro waren schon so behaart wie Männer, und die Farbe war dunkler, bräunlich, wie bei Dad, wenn Gregory in einem Stehklo zu ihm hinüberschielte. Wenigstens hatte Gregory über haupt schon Haare, anders als Bristowe der Kahle und Hall und Wood. Aber wie waren Hopkinson und Shapiro so geworden? Alle anderen hatten Puller; Hopkinson und Shapiro hatten schon Schwänze.
    Er musste aufs Klo. Das ging jetzt nicht. Er durfte nicht daran denken. Er konnte es anhalten, bis er zu Hause war. Die Kreuzfahrer kämpften gegen die Sarazenen und erlösten das Heilige Land von den Heiden. Sie trugen Wappenröcke mit Kreuzen drauf. Und Unterröcke mit Blümchen, Herr Lehrer? Das war so ein Witz von Wood. In diesen Kettenhemden wurde es ihnen bestimmt heiß in Israel. Er durfte nicht daran denken, dass er jetzt eine Goldmedaille gewinnen könnte, wenn jemand gesagt hätte: »Wer pinkelt am höchsten gegen die Wand?«
    »Hier aus der Gegend?«, fragte der Haarschneider plötzlich. Gregory sah ihn sich zum ersten Mal richtig im Spiegel an. Rotes Gesicht, kleiner Schnurrbart, Brille, gelbliches Haar von der Farbe eines Schülerlineals. Quis custodiet ipsos custodes , hatten sie gelernt. Und wer schneidet die Haare der Haarschneider? Der da war nicht nur irre, sondern noch dazu pervers, das sah man gleich. Jeder wusste, dass Millionen Perverse frei herumliefen. Der Schwimmlehrer war auch einer. Nach der Stunde, wenn sie in ihren Handtüchern bibberten, wenn ihre Eier ganz schrumpelig waren und alle Puller plus zwei Schwänze rausstanden, spazierte Mr Lofthouse am Beckenrand lang, stieg auf das Sprungbrett, wartete, bis ihn alle beachteten mit seinen gewaltigen Muskeln und der Tätowierung und den ausgestreckten Armen und dem gebauschten Schurz mit Kordeln um den Hintern, holte dann tief Luft, sprang rein und tauchte unter Wasser durch das ganze Becken. Fünfundzwanzig Meter unter Wasser. Danach schlug er an und kam wieder hoch, und alle klatschten Beifall – nicht, dass sie das ehrlich meinten –, aber er achtete gar nicht darauf und trainierte verschiedene Lagen. Er war pervers. Wahrscheinlich waren die meisten Lehrer pervers. Einer trug einen Ehering. Das war der Beweis, dass er pervers war.
    Und der da auch. »Wohnst du hier in der Gegend?«, fragte er noch einmal. Darauf fiel Gregory nicht rein. Der käme womöglich an und wollte ihn für die Pfadfinder oder die Kreuzfahrer anwerben. Dann würde er Mami fragen, ob Gregory zum Zelten im Wald mitkommen dürfte – aber da wäre dann nur ein Zelt, und er würde Gregory was von Bären erzählen, und obwohl sie in der Schule Geographie hatten und er wusste, dass die Bären in Großbritannien etwa zur Zeit der Kreuzfahrer ausgestorben waren, würde er es halbwegs glauben, wenn der Perverse ihm erzählte, da wäre ein Bär.
    »Nicht mehr lange«, antwortete er. Das war nicht besonders schlau, das merkte er gleich. Sie waren ja eben erst hergezogen. Der Haarschneider würde spöttische Bemerkungen machen, wenn Gregory noch jahrelang wiederkäme. Er warf einen hastigen Blick nach oben in den Spiegel, doch der Perverse ließ sich nichts anmerken, sondern machte gedankenlos ein letztes Mal schnipp. Dann griff er Gregory in den Kragen und wackelte daran herum, damit möglichst viele Haare in sein Hemd fielen. »Überleg dir
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