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Der Zitronentisch

Der Zitronentisch

Titel: Der Zitronentisch
Autoren: Julian Barnes
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hatten die vorsichtige Anwort zur Folge: »Ganz wie du willst.« Also gab er sich damit zu frieden, je nach Laune »Ja« oder »Heute nicht, danke« zu sagen. Auch je nach Fähigkeit des Mädchens, ihm kein Wasser in die Ohren laufen zu lassen.
    Sie fasste ihn halb am Arm und führte ihn vorsichtig zu seinem Stuhl zurück, als wäre ein tropfender Mensch so etwas wie ein Blinder. »Magst du einen Tee, einen Kaffee?«
    »Nichts, danke.«
    Es gab nicht gerade Lauten- und Gambenspiel und eine Versammlung von Müßiggängern, die den neuesten Klatsch austauschten. Aber es gab ohrenbetäubend laute Musik, mehrere Getränke zur Auswahl und ein gutes Sortiment von Zeitschriften. Was wohl aus Reveille und Tit-Bits geworden war, die die alten Knacker immer lasen, damals, als er sich auf dem Gummisitz wand? Er suchte sich eine Marie Claire heraus, eine Frauenzeitschrift, mit der sich auch ein Kerl durchaus sehen lassen konnte.
    »Hi, Gregory, wie geht’s?«
    »Gut. Und selbst?«
    »Kann nicht klagen.«
    »Kelly, die neue Frisur gefällt mir.«
    »Yeah. Mal was anderes.«
    »Gefällt mir so. Sieht gut aus, fällt schön. Wie findest du’s?«
    »Weiß noch nicht.«
    »Nein, ist ein Hit.«
    Sie lächelte. Er lächelte zurück. Er beherrschte das halb ernst gemeinte Kundengeplänkel. Es hatte nur etwa fünfundzwanzig Jahre gedauert, bis er den richtigen Ton raushatte.
    »Und, was machen wir heute?«
    Er betrachtete sie im Spiegel, ein großes Mädchen mit einem scharf geschnittenen Bob, den er eigentlich nicht mochte; er fand, damit sah ihr Gesicht zu eckig aus. Aber was wusste er schon? Seine eigene Frisur war ihm gleichgültig. Kelly war ein ruhiger Mensch und hatte schnell begriffen, dass er nicht über seinen Urlaub ausgefragt werden wollte.
    Als er nicht gleich antwortete, sagte sie: »Gehen wir in die Vollen und machen genau dasselbe wie letztes Mal?«
    »Gute Idee.« Dasselbe wie letztes Mal, und nächstes Mal, und übernächstes Mal wieder.
    In dem Salon herrschte die fröhliche Atmosphäre einer Krankenstation für ambulante Patienten beiderlei Geschlechts, die alle nichts Ernstes hatten. Damit hatte er keine Probleme; seine sozialen Ängste waren längst überwunden. Die kleinen Errungenschaften der reiferen Jahre. »Nun, Gregory Cartwright, leg Rechenschaft ab über dein bisheriges Leben.« »Tja, ich hab keine Angst mehr vor Religion und Haarschneidern.« Er war nie den Kreuzfahrern beigetreten, wer immer die gewesen sein mochten; er war den blindwütigen Missionaren in der Schule und auf der Uni erfolgreich aus dem Weg gegangen; er wusste jetzt, was er zu tun hatte, wenn es sonntagmorgens an der Tür läutete.
    »Das wird Gott sein«, sagte er dann zu Allie. »Ich mach das schon.« Und dann stand ein adrettes, höfliches Paar vor der Tür, einer von beiden oftmals schwarz, manchmal mit einem niedlichen Kind im Schlepptau, und eröffnete das Gespräch mit einem unverfänglichen Satz wie »Wir gehen gerade von Haus zu Haus und fragen die Leute, ob sie sich Sorgen machen um den Zustand der Welt.« Der Trick war, sowohl das wahrheitsgemäße Ja wie auch ein überhebliches Nein zu vermeiden, damit sie da nicht einhaken konnten. Darum lächelte er hausväterlich und kam direkt zur Sache: »Religion?« Und ehe sie nun ihrerseits entscheiden konnten, ob Ja oder Nein die richtige Reaktion auf seine brutale Intuition war, beendete er die Unterredung mit einem energischen »Vielleicht haben Sie nebenan mehr Glück.«
    Im Grunde mochte er es ganz gern, sich die Haare waschen zu lassen; meistens jedenfalls. Aber der Rest war reine Routine. Der Körperkontakt, der heutzutage offenbar dazugehörte, bereitete ihm nur geringes Vergnügen. Kelly drückte wie aus Versehen ihre Hüfte an seinen Oberarm oder streifte ihn mit anderen Körperteilen, und sie war nie übermäßig korrekt angezogen. In früheren Zeiten hätte er sich eingebildet, das gelte alles nur ihm allein, und wäre dankbar gewesen für das drapierte Tuch, das seinen Schoß bedeckte. Heute lenkte es ihn nicht mehr von Marie Claire ab.
    Kelly erzählte, sie habe sich für einen Job in Miami beworben. Auf den Kreuzfahrtschiffen. Man fuhr fünf Tage, eine Woche, zehn Tage raus, dann hatte man Landurlaub, damit man das eben verdiente Geld ausgeben konnte. Eine Freundin von ihr war gerade da draußen. Hörte sich gut an.
    »Aufregend«, sagte er. »Wann soll’s denn losgehen?« Er dachte: In Miami herrscht doch die Gewalt, oder nicht? Schießereien. Kubaner. Laster. Lee
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