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Der Zitronentisch

Der Zitronentisch

Titel: Der Zitronentisch
Autoren: Julian Barnes
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Spiegelbild seines Nickens in dem gekippten Glas sah, verbalisierte er es zu »Sehr nett« oder »Viel schöner so« oder »Genau richtig« oder »Danke«. Womöglich hätte er auch Zustimmung geheuchelt, wenn man ihm ein Hakenkreuz in den Nacken geschnitten hätte. Eines Tages hatte er dann gedacht: Nein, ich will die Rückseite gar nicht sehen. Wenn es vorne okay ist, ist es hinten bestimmt auch okay. Das war doch nicht anmaßend, oder? Nein, das war nur logisch. Er war ziemlich stolz auf seine Initiative. Natürlich vergaß Kelly es immer wieder, aber das machte nichts. Ja, es war sogar besser so, denn dadurch konnte er seinen schüchternen Sieg jedes Mal wiederholen. Als sie ihm jetzt mit dem baumelnden Spiegel entgegenkam, in Gedanken schon in Miami, hob er die Hand, lächelte nachsichtig wie gewohnt und sagte:
    »Nein.«

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DIE GESCHICHTE VON MATS ISRAELSON
    Vor der Kirche, in der sich ein geschnitzter, im Dreißigjährigen Krieg aus Deutschland hierher gebrachter Altar befand, standen sechs Pferdeboxen in einer Reihe. Sie waren aus Fichtenholz, das nur einen Möwenschrei von der Straßenkreuzung der Stadt geschnitten und abgelagert worden war, und nicht verziert, nicht einmal nummeriert. Doch ihre Schlichtheit und augenscheinliche Verfügbarkeit täuschte. In den Köpfen derer, die zur Kirche ritten, wie auch derer, die zu Fuß kamen, waren die Boxen von links nach rechts mit den Zahlen eins bis sechs nummeriert und den sechs bedeutendsten Männern der Gegend vorbehalten. Sollte ein Fremder sich das Recht herausnehmen, sein Pferd hier anzubinden, während er sich im Centralhotellet am Brännvinsbord gütlich tat, so würde er sein Tier bei der Rückkehr unten an der Anlegestelle herumwandern und auf den See hinausblicken sehen.
    Der Besitz der einzelnen Boxen wurde durch persönli che Entscheidung geregelt, sei es per Schenkung oder per testamentarische Verfügung. Doch während im Innern der Kirche gewisse Bänke von einer Generation zur anderen gewissen Familien vorbehalten waren, und das ungeachtet ihrer jeweiligen Leistungen, galt es draußen die staatsbür gerlichen Verdienste zu berücksichtigen. Ein Vater moch te seine Box wohl an seinen ältesten Sohn weitergeben wollen, doch ließ der Junge es an Ernsthaftigkeit fehlen, so warf die Schenkung ein schlechtes Licht auf den Vater. Als Halvar Berggren sich dem Akvavit, dem Lotterleben und der Gottlosigkeit ergab und sein Besitzrecht auf die dritte Box einem wandernden Scherenschleifer übertrug, traf die Missbilligung Berggren, nicht aber den Scheren schleifer, und nachdem ein paar Riksdaler von Hand zu Hand gegangen waren, wurde eine angemessenere Rege lung gefunden.
    Dass die vierte Box Anders Bodén zugesprochen wurde, löste keine Verwunderung aus. Der Generaldirektor des Sägewerks war für seinen Fleiß, seinen soliden Lebenswandel und seinen Familiensinn bekannt. Wenngleich nicht übermäßig fromm, war er doch mildtätig. Als die Jagd in einem Herbst gut gewesen war, hatte er eine der Sägegruben mit Holzabfällen angefüllt, einen Eisenrost darüber gelegt und ein Reh gebraten, dessen Fleisch er an seine Arbeiter verteilte. Obwohl er nicht hier geboren war, fühlte er sich berufen, anderen die Sehenswürdigkeiten der Stadt zu zeigen; häufig erklommen Besucher auf sein Drängen hin den klockstapel neben der Kirche. Dann lehnte sich Anders mit einem Arm an den Glockenstuhl und wies auf die Ziegelbrennerei, auf die Taubstummenanstalt dahinter und – schon außer Sichtweite – auf die Statue zur Bezeichnung der Stelle, an der Gustavus Vasa im Jahre 1520 seine Rede an die Dalekarlier gehalten hatte. Bisweilen schlug Anders, ein stattlicher, bärtiger und schwärmerischer Mann, sogar eine Wallfahrt auf den Hökberg vor, um den Stein zu besichtigen, der dort vor kurzem zum Andenken an den Rechtsgelehrten Johannes Stiernbock aufgestellt worden war. In der Ferne zog ein Dampfschiff seine Bahn über den See; unten wartete Anders’ Pferd friedlich in seiner Box.
    Der Klatsch behauptete, Anders Bodén halte sich so lange mit den Besuchern der Stadt auf, weil das seine Rückkehr nach Hause verzögerte; der Klatsch wusste be harrlich zu berichten, Gertrud habe ihm bei seinem ers ten Heiratsantrag in das bärtige Gesicht gelacht und seine Vorzüge erst entdeckt, nachdem ihre Liebe zu dem jun gen Markelius mit einer Enttäuschung endete; der Klatsch vermutete, als Gertruds Vater dann mit dem Vorschlag zu Anders ging, er möge sein Werben erneuern, seien
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