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Der Zitronentisch

Der Zitronentisch

Titel: Der Zitronentisch
Autoren: Julian Barnes
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eine Metronomangabe für das Allegro. Er will wissen, ob doppo piu lento bei Buchstabe K im zweiten Satz nur für drei Takte gilt. Ich antworte, Maestro K., ich möchte Ihren Absichten nicht entgegenstehen. Letzten Endes – verzeihen Sie mir meinen zuversichtlichen Ton – lässt sich die Wahrheit auf mehr als nur eine Art ausdrücken.
    Ich erinnere mich an mein Gespräch mit N. über Beethoven. N. war der Meinung, die besten Symphonien Mozarts haben auch dann noch Bestand, wenn sich die Räder der Zeit ein weiteres Mal gedreht haben, während Beethovens Symphonien auf der Strecke geblieben sind. Das ist typisch für unsere Differenzen. Ich empfinde für N. nicht dasselbe wie für Busoni und Stenhammar.
    Es heißt, Strawinsky hielte meine handwerklichen Fähigkeiten für dürftig. Ich betrachte das als das größte Kompliment, das ich im Laufe meines langen Lebens je bekommen habe! Herr Strawinsky gehört zu den Komponisten, die zwischen Bach und der neuesten Mode hin und her schwanken. In der Musik lernt man Technik aber nicht in einer Schulstube mit Tafel und Zeigestock. Hier wäre Herr I. S. der Klassenprimus. Doch wenn man meine Symphonien mit seinen tot geborenen Künsteleien vergleicht …
    Ein französischer Kritiker wollte meine Dritte Symphonie unbedingt abscheulich finden und zitierte Gounod: »Nur Gott komponiert in C-Dur.« Genau.
    Einmal diskutierte ich mit Mahler über Komposition. Für ihn muss eine Symphonie so sein wie die ganze Welt und alles in sich enthalten. Ich erwiderte, das Wesentliche einer Symphonie sei die Form, die stilistische Strenge und die tiefgründige Logik, welche die Verbindungen zwischen den Motiven schafft.
    Wenn Musik Literatur ist, dann ist sie schlechte Literatur. Musik beginnt dort, wo die Worte enden. Was entsteht, wenn die Musik endet? Stille. Alle anderen Künste erstreben die Stellung der Musik. Was erstrebt die Musik? Stille. Wenn dem so ist, habe ich Erfolg gehabt. Ich bin jetzt ebenso berühmt für meine lange Periode der Stille wie früher für meine Musik.
    Natürlich könnte ich immer noch unbedeutenden Tand komponieren. Ein Geburtstagsintermezzo für die frisch angetraute Frau von Cousin S., die das Pedal nicht so sicher beherrscht, wie sie sich einbildet. Ich könnte dem Ruf des Staates folgen, den Bitten von einem Dutzend Dörfern mit einem mittelgroßen Gemeindesaal. Doch das wäre Heuchelei. Meine Reise ist beinahe vollendet. Selbst meine Feinde, die meine Musik verabscheuen, geben zu, dass sie eine innere Logik hat. Die Logik der Musik führt letztendlich zu Stille.
    A. hat die Charakterstärke, die mir fehlt. Sie ist nicht umsonst eine Generalstochter. Andere sehen mich als einen berühmten Mann mit einer Frau und fünf Töchtern, einen Hecht im Karpfenteich. Sie sagen, A. habe sich auf dem Altar meines Lebens geopfert. Dabei habe ich mein Leben auf dem Altar meiner Kunst geopfert. Ich bin ein sehr guter Komponist, aber als Mensch – hmm, das ist eine andere Frage. Doch habe ich sie immer geliebt, und wir waren auch glücklich miteinander. Als ich sie kennen lernte, erschien sie mir wie Josephssons Meermädchen, das seinen Ritter in die Veilchen bettet. Dann wird es allerdings schwieriger. Die Dämonen geben sich zu erkennen. Meine Schwester in der Nervenklinik. Alkohol. Neurose. Schwermut.
    Kopf hoch! Der Tod ist nicht mehr fern.
    Otto Andersson hat meinen Familienstammbaum so genau ausgearbeitet, dass es mich krank macht.
    Manche halten mich für einen Tyrannen, weil es meinen fünf Töchtern stets verboten war, im Hause zu singen oder zu musizieren. Kein fröhliches Kreischen einer stümpernden Geige, keine eifrig bemühte Flöte mit Atemnot. Was – keine Musik im Haus des großen Komponisten! Doch A. versteht das. Sie versteht, dass Musik aus Stille hervorgehen muss. Aus Stille hervorgehen und dorthin zurückkehren muss.
    Auch A. arbeitet mit Stille. Ich gebe – weiß Gott – genug Anlass für Vorwürfe. Ich habe nie behauptet, so ein Ehemann zu sein, auf den man in der Kirche Lobreden hält. Nach Gothenburg hat sie mir einen Brief geschrieben, den ich bei mir tragen werde, bis die Totenstarre einsetzt. Aber an gewöhnlichen Tagen macht sie mir keine Vorwürfe. Und im Gegensatz zu allen anderen fragt sie nie, wann meine Achte fertig sein wird. Wenn ich in der Nähe bin, handelt sie nur. Nachts komponiere ich. Nein, nachts sitze ich mit einer Flasche Whisky am Schreibtisch und versuche zu arbeiten. Später wache ich mit dem Kopf auf der Partitur auf,
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