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Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)

Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)

Titel: Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
Autoren: Nils Minkmar
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nach vielen Jahren. Steinmeier und Gabriel hielten Reden, beschworen den Zusammenhalt und wiesen auf die Kanzlerin. In allen anderen Parteien hatte es an diesem Tag dramatische Entwicklungen gegeben, die Spitzen der Grünen und der FDP waren zurückgetreten. Einzig die Sozialdemokraten waren bewegungslos in ein unerlöstes Zwischenreich verbannt. Die Zeit stand still für sie, jede Bewegung hätte das komplizierte Kartenhaus ihrer internen Machtbeziehungen bedroht. Eigentlich stellte sich an jenem Abend exakt die gleiche Frage wie ein Jahr zuvor: Große Koalition oder Rotrotgrün? Die von Peer Steinbrück verfolgte rotgrüne Option hatte sich erwartungsgemäß erst einmal erledigt. Aber er war immer noch da. Eine ebenso erwartungsgemäß defekte Tonanlage zerhackte seine kurze Ansprache. Seine Stimme, die mich nun schon im Traum verfolgte, wehte durch Wolken von Nieselregen zu mir herüber. Er rezitierte, und ich erkannte sofort, was es war: »Wenn dir die Schuhe mit Schwermut besohlt worden sind und Grauwacke deine Taschen beutelt.« Keine Ahnung, wie Peer Steinbrück eingeführt hatte, dass er nun dieses Gedicht zitieren würde. Es lagen Epochen zwischen dem Wahlkampf, den Grass für Willy Brandt führte, und dem heutigen Abend. Hinzu kam, dass Grass das Gedicht nicht für den Wahlkämpfer geschrieben hatte, sondern für seinen Sohn. Den Grass-Kindern gelten im Buch die schönsten, aber auch die aufschlussreichsten politischen Passagen. An anderer Stelle erklärt er ihnen: »Denn die Sozialdemokraten, Kinder, sind Leute, die kaum an ihre eigenen Leistungen, doch mit diffuser Leuchtkraft an ihre weitergehenden Resolutionen glauben.« An jenem Abend hatte es sich fast umgedreht: Die Spitze der Partei, die Fraktion glaubten fest an ihre Kompetenz, nicht aber an weitergehende Resolutionen, der Wähler hatte ja auch klargemacht, was er von dem langen Weltrettungsprogramm hielt. Steinbrück kam zum Schluss des Grass-Gedichts: »Beginne dich zu bewegen, dich vorwärts zu bewegen.« Das gab erleichterten Applaus, weil er immerhin andere Worte und andere Bilder vorgetragen hatte als das dieser Tage ununterbrochen wiederholte Bild vom Ball, der »im Feld der Kanzlerin« liege. Aber es war dennoch nicht leicht, etwas mit dem Dichterwort anzufangen: Wo ist, wenn man ein einer Weggabelung steht, eigentlich vorwärts? Und wer würde die Richtung weisen?
    Steinbrück hatte eine wichtige Passage unterschlagen, die mit der Pause. Grass schreibt: »dann – Fränzeken – nach einer Pause, die lang genug ist, um peinlich genannt zu werden, dann stehe auf und beginne dich zu bewegen …«. Die SPD hatte aber keine Pause eingelegt, schon gar keine lange, sondern im Gegenteil den Stillstand auch nur einer Sekunde vermieden.
    Die Stimmung auf dem Fest war vielleicht gerade deswegen verhalten fröhlich. Hier feierte der rechte Flügel der Fraktion, man war einverstanden mit der staatstragenden Örtlichkeit im Schatten des Reichstages. Es könnte ja bald schon weitergehen. Eine Regierungsbeteiligung mit einigen Ministern, das bedeutet Dutzende schöner Stellen und Positionen. Und sie vermittelt das, was Sozialdemokraten am meisten brauchen: einen Stein, um ihn den Berg hinaufzurollen, auf dass er wieder herabstürze. Es gäbe immer Themen, Krisen, Streitpunkte und dazu passende Termine, Reisen und Fernsehauftritte. Aber die Distanz zu den Höhen, den ewigen Themen des Wahlprogramms, würde nahezu absurde Dimensionen annehmen. In einer großen Koalition würde es nur um wenige Stellschrauben einer im wesentlichen abwartenden, wie stets »auf Sicht fahrenden« Exekutive gehen. Von den hehren Zielen der Beendigung von Not und Gewalt war das ewig weit entfernt. Das erinnerte an den Janosch-Klassiker »Oh, wie schön ist Panama!« Man beschwört mittelamerikanische Gefilde, kommt aber nicht aus dem Zimmer. Es passte, das am Ende dieses Wahlkampfs nichts passte. Das Ergebnis war wie die heliumgefüllten Cocktailwürstchen in den Fußgängerzonen, auf denen Dialog-Box stand, die aber weder eine Box waren noch über eine Vorrichtung zur dialogischen Betätigung verfügten. Es war der von Anfang an wahrscheinliche Fall eingetreten, dass eine große Koalition möglich war. Vorbereitet aber war man darauf ebenso wenig wie auf die seinerzeit ebenso wahrscheinliche Kanzlerkandidatur von Peer Steinbrück. Obwohl es tapfer und logisch hieß, man wolle erst die Sachfragen beleuchten und sich beraten, war es bereits in den ersten Minuten nach dem
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