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Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)

Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)

Titel: Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
Autoren: Nils Minkmar
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transparenten und konsistenten Prinzip: Er sprach Probleme an, analysierte ihre Ursachen und Bezüge, machte Vorschläge zu ihrer Lösung und beschrieb auch, mit welchen Mehrheiten er das wollte. Er operierte noch mit den Methoden und Begriffen der kritischen Nachkriegsgesellschaft, pflegte keine strategische Kommunikation und berechnete, bevor er etwas unternahm, nicht immer seinen Vorteil. In diesem Sinne war sein Wahlkampf altmodisch, aber man kann nicht behaupten, dass wir etwas Neues und Besseres zur Verfügung hätten.
    Wie wäre mein Urteil ausgefallen, wenn ich ihn aus der üblichen Distanz beobachtet hätte? Wäre ich auch auf die leichten Lösungen verfallen und darauf, den Grund für die Misere bei Personen zu suchen? Sie bieten es ja auch an, schimpfen bereitwillig auf Abwesende oder legen ihre Seele zur Deutung frei. Aber wie so oft, wenn man sich etwas näher und länger anschaut, fällt das Urteil ganz anders aus als erwartet. Ich habe beschrieben, dass das Interview vom Dezember 2012 , welches neben vielen anderen Passagen auch die eine über das zu geringe Kanzlergehalt enthält, ein schwerer Fehler war. Erst nach Monaten hat sich Steinbrück davon erholt, es hat ihn sehr viel gekostet. Aus der Distanz, ohne nähere Anschauung, hätte ich die Schuld daran, außer dem Kandidaten, dem damaligen Pressesprecher gegeben. Doch bei einem langen privaten Gespräch lernte ich diesen besser kennen und erfuhr von den schönen und ehrenwerten Aufgaben, die ihn zu jener Zeit im Privaten bewegten und die in kein Buch gehören. Er stieg in meinem Ansehen, während mein Vertrauen in meine Urteilskraft aus der Ferne schwand.
    Bemerkenswert ist, was ich alles nicht gesehen habe: kaum Machtspiele, keine übergroßen Egos, keine chauvinistischen oder unbeherrschten Attitüden, kein Dominanzgehabe und kein Lästern über andere. Vielleicht haben sie das immer genau dann sein lassen, wenn ich dazukam, Indizien dafür gibt es aber keine.
    Es ist noch nicht allzu lange her, da war es kaum möglich, mit Politikern zu reden, ohne dass sie auf die eigene Leistung noch auf dem entlegensten Feld verweisen mussten: beim Kindergeburtstag und beim Kegeln die Ersten, die jüngsten Vorsitzenden eines Vereins, die besten Athleten, die kräftigsten Trinker und die tierischsten Tiere. Das ist vorbei. Ich habe auch nicht die Spur von Zynismus erlebt, keine Verachtung der Wähler oder der Parteibasis, schon gar nicht des politischen Gegners. Ich halte es für eine unzulässige Simplifizierung, die Schuld an dem schlechten Wahlkampf und dem demütigenden Ergebnis unter den Spitzengenossen zu suchen. Es lagen, das kann man nicht verschweigen und viele Genossen haben es mir im Vertrauen auch bestätigt, Welten zwischen dem handwerklich nahezu perfekten Wahlkampf der Union und dem trial-and-error-Verfahren der Sozialdemokraten und Grünen. Inhaltlich vermied die Union jede Festlegung und vieles war von den Sozialdemokraten geklaut, aber mit den Augen professioneller Wahlkämpfer gesehen, waren die großen Zugewinne verdient: Ihre Fernsehspots spielten in einer ganz anderen Liga als jene der Sozialdemokraten und der Grünen, ihr Wahlprogramm war besser strukturiert, und die Plakate sahen viel besser aus.
    Wir erkennen darüber hinaus ein Zeichen der Zeit: Eine größere Erfolgsaussicht hätte mehr Erfolg zur Folge gehabt. Unter diesem Gesichtspunkt wäre es effektiver gewesen, zunächst einmal gar nichts auszuschließen, weder die große Koalition noch Rotrotgrün. Es wäre zugleich politisch unaufrichtig gewesen und hätte dem widersprochen, was die Wähler immer von der Politik erwarten, aber es hätte mehr Prozente gebracht, weil es den Lawineneffekt der öffentlichen Meinung genutzt hätte. Die Genossen und dann die Journalisten und dann die Wähler, sie alle wollen Chancen maximieren und schlagen sich früh auf die Seite des präsumtiven Siegers. Die Frage ist, wer es sich dennoch antun soll, eine politisch redliche Alternative zu formulieren und zu verkörpern?
     
    Der letzte Termin war ein Fest, das Sommerfest des »Seeheimer Kreises« in der SPD -Bundestagsfraktion. Es fand im Garten der Parlamentarischen Gesellschaft gleich hinter dem Reichstag statt. Das Wetter war ebenso komplex wie die politische Lage: Warm, aber nicht schön, heftiger Nieselregen, bei dem man dennoch gut im Freien stehen konnte. Es hatte etwas vom ersten Treffen der Schüler nach den großen Ferien: Manche Parlamentarier waren neu, andere verließen das hohe Haus
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