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Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)

Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)

Titel: Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
Autoren: Nils Minkmar
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Entscheidung von nie dagewesener Komplexität. Denn die historische Gewinnerin konnte keine Mehrheit bilden, genau genommen war die Mehrheit im Parlament sogar gegen sie. Es fehlten Merkel ganz wenige Sitze zur Mehrheit. Um diesen schmalen Winkel in den Sitzverteilungsdiagrammen ging es. Sollte die Sozialdemokratie deswegen noch einmal zur Regierungspartei werden? Ohne große parlamentarische Hausmacht, mit einem lächerlichen Ergebnis?
    Am späteren Abend dann, als sich verfestigte, dass die Union nicht alleine regieren konnte, bevölkerten Personenschützer aus diversen Bundesländern die Flure. Sie sicherten Treppen, Aufzüge und Zwischentüren, immer stand jemand mit einem anderen diskret zusammen. Peer Steinbrück war in grimmigem Weitermach-Modus, spielte Szenarien durch, berechnete Proporzfragen und entwarf Pläne. Einmal öffnete er die Tür zum großen Saal und entdeckte in der ersten Reihe zwei seiner Kinder und seine Frau. Er legte die Hand aufs Herz und machte eine weit ausholende Geste, aber er schien in Gedanken weit weg, schon im Morgen. Journalisten hatten so oft geschrieben, dass er sich nach durchlittenem Wahlkampf zu Filmen, Büchern und Vorträgen zurückziehen werde, aber diesen Eindruck machte er nicht. Er erinnerte mich eher an einen Juraprofessor meiner Universität, der einmal in einem Alpentunnel in einen schweren Autounfall verwickelt war. Als es ihm gelungen war, sich aus dem Wrack zu befreien und auch seiner Begleiterin herauszuhelfen, waren, angesichts des immensen Blechschadens, seine ersten Worte: »Ich glaube, ich brauche jetzt ein Taxi.«
    Womit geht nun die Reise weiter, das ist im politischen Schockzustand die brisante Frage, die keinen Aufschub duldet. Wohin, das kann man später klären, wenn man unterwegs ist. Und wer nach dem Wozu fragt, hat schon verloren.
    Die Last der Politik – immer ist was, immer Termine – kann im Schock auch ein Vorteil sein: Es geht fast immer weiter. Auch wenn man weder in der Exekutive noch in der Legislative sitzt, ist der Terminkalender übervoll. Wenn man gar Minister ist oder Fraktionsvorsitzender, gehört man zu den Säulen der Gesellschaft, ist beinahe täglich im Fernsehen und erfreut sich echter Macht und eines privilegierten Zugangs zu Informationen. Man weiß einfach mehr über mehr Leute und das schneller als alle anderen.
    Und nun stand diese Möglichkeit im Raume. Es war, als habe jemand die Tür zu einer Bäckerstube geöffnet, aus der nach einer harten Nacht die Düfte der ersten Backwaren entwichen. Man konnte sehen, wie sich die Stimmung veränderte, weil eine Beteiligung an der Regierung plötzlich möglich schien. Aber es erhoben sich gleich Warnungen davor, sofort bei den warmen Brötchen zuzugreifen. Das Schicksal der FDP stand drohend vor Augen. Zwar hatte die Kanzlerin schon auf dem Geburtstagsfest der Partei in Leipzig einladend gezeigt, wo die Limousinen parken. Aber es wäre auch fatal, die im Wahlkampf offenbar gewordenen, schweren Probleme der Partei nun durch Betriebsamkeit und die dann nötige Solidarität mit den Regierungsmitgliedern zuzudecken.
    Das Wahlergebnis hatte aber noch einen weiteren, teuflischen Dreh: Im neuen Bundestag, der nach einhelliger Meinung aller Zeitungen Merkels endgültigen Triumph repräsentierte, lag die Mehrheit woanders, nämlich, um einen Ausdruck von Willy Brandt zu gebrauchen, »diesseits der Union«. Er sagte das in Bezug auf eine Koalition mit den Grünen, die damals noch als nicht akzeptabel galten. Heute ist die Linkspartei in diese Rolle verbannt. So war selbst der aufrecht demokratische Satz: »Der Souverän will nun mal Angela Merkel« ohne große Trostwirkung. Denn ins Parlament hatten die Deutschen mehrheitlich Abgeordnete geschickt, die Merkel nicht zur Kanzlerin wählen wollten.
    Es war das totale Desaster. Nichts war erreicht. Die SPD fand sich, nach einem harten Jahr und einer unverblümten Demütigung im Griff ihrer alten Gespenster: Die Sozialdemokraten haben sich historisch immer auch in Abgrenzung zu den Kommunisten definiert. Selbst der treue Staeck würde wegbleiben, wenn er als Flüchtling aus der DDR erleben müsste, wie seine Partei eine Koalition mit der SED -Nachfolgepartei eingeht. Und eine Partei der exekutiven Exzellenz, die für einen reibungslosen Ablauf der Staatsgeschäfte sorgt, für etwas sozialen Ausgleich und die manch diskrete Reform auf den Weg bringt, wird nicht mehr Stimmen bekommen als die 25  Prozent jenes Abends.
    Beim Hinausgehen nach einem
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