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Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)

Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)

Titel: Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
Autoren: Nils Minkmar
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die getroffenen Entscheidungen sind nicht unbedingt falsch. Ab und zu aber, beispielsweise vor einer Bundestagswahl, ist es die Aufgabe der zur Wahl stehenden Menschen, die Probleme und Alternativen, den großen, komplizierten Rahmen darzustellen. In diesem Jahr aber unterstützte die Union nach Kräften den für sie günstigen Verschiebungsprozess: Die Zeiten sind kompliziert, es gibt keine Patentrezepte. Also überlegen Sie doch mal, wem Sie vertrauen können, wer sympathisch ist und wen Sie kennen. Angela Merkel sagte im Fernsehduell: »Sie kennen mich.« Das war die Zauberformel.
    Welche Punkte hätten zur Sprache kommen müssen? Sie hängen alle mit einem einzigen Problem zusammen, das der »Economist« in seiner Ausgabe vor der Wahl auf dem Titelbild darstellte: Man sah einen stolzen Löwen, der den Westen oder die freie Welt symbolisierte, der auch ordentlich brüllte, aber vergessen hatte, seine Zahnprothese aus dem Wasserglas zu nehmen. Die Karikatur bezog sich auf Syrien, aber sie war eine präzise historische Beobachtung. Dies wurde abermals durch den Gastbeitrag von Wladimir Putin in der »New York Times« problematisiert: Was ist an euch, fragte er die amerikanischen Bürger, in moralischer Hinsicht eigentlich noch so außergewöhnlich? Anders formuliert: Wofür haltet ihr euch?
    Die Frage richtet sich an den gesamten Westen, und sie ist völlig berechtigt. Dem Erstarken anderer Weltregionen, das schon oft beschrieben wurde, entspricht die Erlahmung unserer eigenen moralischen Kräfte. Putin kann dies umso frecher fragen, als sein Land Edward Snowden Asyl gewährte, der tapfer den systematischen Gesetzesbruch durch amerikanische Geheimdienste dokumentierte.
    Es stellt sich angesichts vieler solcher Entwicklungen schlicht die Frage, ob wir den in der Nachkriegszeit formulierten Idealen von internationaler Friedens- und Menschenrechtspolitik, einer humanen Gesellschaft und der universellen Gültigkeit von Menschen- und Bürgerrechten noch gerecht werden oder ihnen überhaupt noch anhängen.
    Es scheint doch eher so, als würde die Welt in Einflusssphären mehr oder minder freundlicher Oligarchen zerfallen, gegen deren rohstoff- und finanzgestützte Macht die angeblich schwachen Staaten Europas kaum noch etwas auszurichten vermögen. Folglich versuchen sie es auch gar nicht erst. Zwar erhebt sich hier und da schwacher Protest, wenn ein Film- oder Showstar in Tschetschenien vor dem grausamen Caudillo Ramsan Kadyrow auftritt, aber eigentlich hat sich längst ein abgeklärter Werterelativismus etabliert. Was soll man gegen die Schwulendiskriminierung in Russland und was gegen die Grausamkeiten der chinesischen Regierung unternehmen? Schließlich sind wir, wenn man den gesamten Westen beleuchtet, oft genug kaum besser
    Besonders erschütternd ist die Rückkehr der Folter. In einem seiner wichtigsten Essais hat Michel de Montaigne die Folter als unzivilisiert und unmenschlich beschrieben und ihre Abscheulichkeit festgestellt. Der gesamte Fortschritt der Aufklärung, der Humanisierung des Strafrechts und somit unserer ganzen Gesellschaft lässt sich an der Ächtung der Folter und überhaupt an der Behandlung von Gefangenen ablesen. Es ist auch in Deutschland ein Punkt, der tief in die private Familiengeschichte reicht: Die deutschen Kriegsgefangenen wurden von den Alliierten in der Mehrzahl ganz gut behandelt, sagen wir: besser als erwartet. Sie wurden nicht gefoltert. Das vermittelte die sehr prägende Lektion, dass militärische, später wirtschaftliche Stärke nicht mit Grausamkeit und Folter einhergehen muss, eine Einsicht, die zum festen Bestandteil der bundesdeutschen Nachkriegsidentität wurde. Dass verbündete Regimes wie das des Schahs in Persien, dem heutigen Iran, in Chile und Südafrika foltern ließen, war ein wesentlicher Antrieb für die Proteste in den sechziger und siebziger Jahren. Es befeuerte auch die oft weit an der Realität vorbei argumentierenden Proteste gegen die Haftbedingungen der RAF -Mitglieder in Stuttgart-Stammheim. Als Wesenskern des westlichen Ideals galt: Wir foltern auch jene nicht, die gegen uns gekämpft haben oder entsprechende Pläne hegten.
    Heute ist dieser alte und edle, symbolisch hochwirksame Bestandteil der westlichen Identität kaum noch erkennbar: Seit den Anschlägen vom 11 . September 2001 ist Folter ein routinemäßiger Bestandteil der sogenannten Terrorbekämpfung geworden. Es werden keine Streckbänke und Ähnliches benötigt, heute quälen sogenannte
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