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Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)

Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)

Titel: Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
Autoren: Nils Minkmar
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vielen Branchen, auch in den Geisteswissenschaften. Fast meint man, dem Land wäre es am liebsten, insgesamt als Weltkulturerbe Bundesrepublik Deutschland geschützt und von dem Zwang, die eigene Zukunft erfinden zu müssen, befreit zu werden.
    Daran zeigt sich noch etwas anderes, nämlich ob wir in unserem öffentlichen Diskurs die Fähigkeit haben, wichtige Themen von unwichtigen zu unterscheiden. Verlieren wir uns in einer anomischen Dissonanz angeblicher Aktualitäten? Können wir in unserem hypertrophen, kaum regulierten, kaum besteuerten globalen Starsystem noch unterscheiden, wer durch seine künstlerische, sportliche oder musikalische Leistung die Verehrung des Publikums wirklich verdient, oder verehren wir einfach alle, die berühmt sind, weil sie berühmt sind?
    Das ist schließlich eine Frage an die Medien, die sich der Logik der Maximierung des Maximalen kampflos ergeben: Interessant ist der Sieger, ist das, was die meisten sehen wollen, sind die Gedanken, die die meisten haben und die, wenn sie oft genug verbreitet wurden, dann von den Nutzern in eigenen Worten zurückkommen, als Beleg, dass das Thema wirklich die Leute bewegt. Es entstehen Filter und dann Blasen, niemand tritt mehr einen Schritt zurück, um zu prüfen, ob das, was alle groß melden, auch wirklich groß ist.
    Und genau das sah man im Bundestagswahlkampf 2013 : Kaum eines der wirklich brisanten Themen wurde angesprochen, stattdessen gerieten mehr oder weniger zufällig ausgewählte Fragen in den Fokus. Die Logik der digitalisierten Medien ist ganz darauf orientiert, das Gesuchte, Gewünschte und woanders schon groß Gebrachte zu erkennen und so zu optimieren, dass möglichst viele Nutzer möglichst lang dranbleiben. Wohin die Reise geht, erkennt man bei einem aufmerksamen Besuch der am meisten besuchten Informationswebsite der Welt, dailymail.co.uk. Hier finden wir wie in den ersten Zeitungen der frühen Neuzeit lauter Geschichten über Schicksalsschläge und Missgeschicke. Alles wird anhand von Personen erzählt, die wie in einer modernen Commedia dell’Arte immer die gleichen Rollen spielen: Sexsüchtige Lehrerin, fette kinderreiche Sozialbetrügerin, armes weißes Mädchen als Opfer asiatischer Gangs, jedes Ressentiment wird in einer Fortsetzungsgeschichte bedient. Armut und Kriminalität spielen eine große Rolle, die Ursachen dafür, die großen Trends der britischen Gesellschaft finden sich nicht mehr darin. Europa ist immer absurd, britische Politik immer schmutzig oder lächerlich, der kleine Mann stets bedroht von Krebs und Kriminalität, allein die königliche Familie und die glorreiche Vergangenheit bieten Trost. Und es ist sehr gut gemacht, so, dass man immer weiter lesen möchte, obwohl man sich anschließend schlecht fühlt, als sei man stets der Dumme, dabei noch verunsichert und zaghaft.
    Es ist nutzeroptimierte Unterhaltung und basiert auf der Annahme, dass der Nutzer nicht aus seiner weltanschaulichen Komfortzone herausgeholt werden möchte. Er möchte, so die Unterstellung, nicht erfahren, welche politischen Äußerungsmöglichkeiten ihm zur Verfügung stehen, sondern seine Vorurteile bestätigt finden und ansonsten in gemütlicher Passivität über eine absurde, bunte Welt staunen.
    Die mediale Begleitung des Bundestagswahlkampfs war ein Vorgeschmack auf Zeiten, in denen es auch bei uns so zugeht. Weil die Favoritin keine Themen vorgab, sich und uns keine Aufgaben stellte, hatten die Inhalte es schwer. Die Menschen wollten ihr einfach folgen, und die Vorstellung, dass Angela Merkel nur deswegen nichts sagt, weil sie keinen Widerspruch, keine Enttäuschung erzeugen, sondern schlicht ihre Macht festigen möchte, klang wie Paranoia. Wer keine Latte auflegt, kann beim Sprung auch keine reißen. Aber haben wir dann noch einen echten Wettkampf?
    Letztlich ist es die Aufgabe der bürgerlichen Gesellschaft, ein Interesse an den großen Themen zu formulieren und die Standards einzuklagen.
    Die parlamentarische Demokratie, der Rechtsstaat, die pluralistisch verfasste Medienlandschaft sind mindestens ebenso in Gefahr wie der Sozialstaat, aber nur der fand ab und zu Beachtung in diesem Wahlkampf. Es ist, als seien wir zu schwach oder zu abgeklärt, zu eingeschüchtert oder zu ängstlich, um zu verteidigen, was einmal erreicht war. Das sollte nicht so bleiben.
     
    Der Mann, den ich rund ein Jahr lang immer wieder getroffen habe, hat auch nicht alle diese Punkte angesprochen. Aber er operierte immerhin nach einem rationalen,
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