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Der Zementgarten

Der Zementgarten

Titel: Der Zementgarten
Autoren: Ian McEwan
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wollte wieder die Beine bewegen, oder die Augen aufmachen. Aber jemand kam mit dem Kästchen, mir blieb keine Zeit, ich mußte weiterlaufen. Dann standen wir uns gegenüber. Das Kästchen, hölzern und aufklappbar, mochte einmal teure Zigarren enthalten haben. Der Deckel war ein paar Zentimeter angehoben, zu dunkel um hineinzusehen. Ich lief weiter, um Zeit zu gewinnen, und diesmal gelang es mir, die Augen zu öffnen. Bevor sie wieder zufielen, sah ich mein Zimmer; mein Schulhemd lag über einem Stuhl, ein Schuh verkehrt herum auf dem Fußboden. Da war das Kästchen wieder.
    Ich wußte, es war ein kleines Lebewesen darin, das mit Gewalt gefangen gehalten wurde und fürchterlich stank. Ich wollte rufen, hoffte, meine Stimme würde mich wecken. Aus meiner Kehle kam kein Laut hervor, und ich konnte nicht einmal die Lippen bewegen. Der Deckel des Kästchens wurde wieder angehoben. Ich konnte mich nicht umdrehen und weglaufen, denn ich war die ganze Nacht gerannt, und nun blieb mir nichts anderes übrig, als hineinzusehen. Mit großer Erleichterung hörte ich die Zimmertür aufgehen und Schritte auf dem Boden näherkommen. Jemand saß an meiner Bettkante, direkt neben mir, und ich konnte die Augen öffnen.
    Meine Mutter saß so, daß meine Arme unter den Bettüchern festgehalten waren. Auf dem Wecker war es halb neun, und ich würde zu spät zur Schule kommen. Meine Mutter war also schon zwei Stunden auf. Sie roch nach der hellrosa Seife, mit der sie sich immer wusch. Sie sagte, »Es ist Zeit, daß wir uns einmal aussprechen, du und ich.« Sie schlug die Beine übereinander und legte die Hände auf die Knie. Ihr Rücken war sehr gerade, wie der von Julie. Ich fühlte mich auf dem Rücken liegend im Nachteil und wollte mich hochstemmen. Aber sie sagte, »Du bleibst erst mal liegen.«
    »Ich komme zu spät«, sagte ich.
    »Du bleibst erst mal liegen«, wiederholte sie mit starker Betonung auf dem letzten Wort, »ich möchte mit dir reden.« Mein Herz schlug sehr schnell und ich starrte an ihr vorbei zur Decke. Ich war aus meinem Traum noch kaum heraus. »Schau mich an«, sagte sie. »Ich möchte mir deine Augen ansehen.« Ich sah ihr in die Augen, die besorgt über mein Gesicht wanderten. Ich sah mein eigenes aufgeblähtes Spiegelbild.
    »Hast du dir in der letzten Zeit deine Augen im Spiegel angesehen?« fragte sie.
    »Nein«, sagte ich unwahrheitsgemäß.
    »Deine Pupillen sind sehr groß, weißt du das?« Ich schüttelte den Kopf. »Und du hast Säcke unter den Augen, obwohl du gerade erst aufgewacht bist.« Sie machte eine Pause. Drunten konnte ich die andern frühstücken hören. »Und weißt du, woher das kommt?« Ich schüttelte wieder den Kopf, und sie machte noch eine Pause. Sie beugte sich vor und sagte drängend, »Du weißt, wovon ich rede, oder?« Das Herz dröhnte mir in den Ohren.
    »Nein«, sagte ich.
    »Doch, du weißt es, mein Junge. Du weißt, wovon ich rede, ich kann es dir ansehen.«
    Mir blieb nichts anderes übrig, als das durch mein Schweigen zu bestätigen. Dieser Überernst stand ihr überhaupt nicht; sie hatte einen gepreßten, schauspielerhaften Ton in der Stimme, nur so konnte sie die schwierige Mitteilung aussprechen.
    »Glaub nicht, ich wüßte nicht, was los ist. Aus dir wird jetzt allmählich ein junger Mann, und ich bin sehr stolz darauf. diese Dinge hätte dir dein Vater gesagt.« Wir sahen weg, wir wußten beide, daß das nicht stimmte. »Erwachsen werden ist schwer, aber wenn du so weitermachst, wirst du dir sehr schaden, deinem Körper schaden, der jetzt noch wachsen muß.«
    »Schaden.«, sprach ich ihr nach.
    »Ja, schau dich doch an«, sagte sie mit einer sanfteren Stimme. »Du kommst morgens nicht aus dem Bett, bist den ganzen Tag müde, du bist launisch, du wäschst dich nicht und ziehst dir keine frischen Kleider an, du bist patzig zu deinen Schwestern und mir. Und wir wissen beide, woher das kommt. Jedesmal.« Sie verlor sich, und statt mich anzusehen, starrte sie auf ihre Hände im Schoß. »Jedesmal. wenn du das tust, brauchst du zwei Liter Blut, um es wieder zu ersetzen.« Sie sah mich herausfordernd an.
    »Blut«, flüsterte ich. Sie beugte sich vor und küßte mich leicht auf die Wange.
    »Du nimmst es mir doch nicht übel, daß ich dir das sage, oder?«
    »Nein, nein«, sagte ich. Sie stand auf.
    »Eines Tages, wenn du einundzwanzig bist, wirst du’s dir nochmal überlegen und wirst mir danken, daß ich dir das damals gesagt habe.« Ich nickte. Sie beugte sich über mich
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