Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Zementgarten

Der Zementgarten

Titel: Der Zementgarten
Autoren: Ian McEwan
Vom Netzwerk:
herein und knipste es aus. »Leer den Kehrichteimer«, sagte sie zu mir, »und bring die Mülltonnen vors Haus.«
    »Verpiß dich«, schrie ich, »ich habe da zugehört«, und griff nach dem Knopf.
    Julie deckte ihn mit der Hand zu. Ich schämte mich noch zu sehr für meinen Überfall, um mit ihr zu kämpfen. Ein paar symbolische Worte der Widerrede, und ich war draußen und schleppte die Mülltonnen. Als ich zurückkam, stand Sue am Küchenbecken und schälte Kartoffeln. Später, als wir uns zum Essen setzten, herrschte gespanntes Schweigen statt des üblichen Krachs. Wenn ich zu Sue hinübersah, kicherte sie. Julie sah nicht zu uns her, und wenn sie sprach, dann nur mit leiser Stimme zu Tom. Als sie den Raum eine Zeitlang verließ, um Essen auf dem Tablett nach oben zu bringen, gaben Sue und ich einander Fußtritte unter dem Tisch und lachten. Aber wir hörten damit auf, als wir sie zurückkommen hörten.
    Tom konnte diese Abende ohne seine Mutter nicht leiden. Julie zwang ihn, seinen Teller leerzuessen, und er durfte nicht unter den Tisch krabbeln oder komische Geräusche machen. Am meisten empörte ihn, daß Julie ihn nicht zu Mutter ins Zimmer ließ, wenn sie schlief. Er kletterte gern ganz angezogen zu ihr ins Bett. Julie hielt ihn am Handgelenk fest, als er hinaufwollte. »Nichts da«, sagte sie ruhig. »Mammi schläft.« Tom fing ein fürchterliches Geheul an, aber er wehrte sich nicht, als Julie ihn zurück in die Küche zog. Auch er hatte ein wenig Angst vor ihr. Sie war auf einmal so weit weg von uns, gelassen, ihrer Autorität sicher. Ich wollte zu ihr sagen, »Ach komm, Julie, hör auf, uns was vorzuspielen. Wir wissen doch, wie du wirklich bist.« Und ich schaute immer wieder zu ihr hin. Aber sie gab den Blick nicht zurück. Sie blieb geschäftig, und ihre Augen trafen meine nur kurz.
    Ich vermied es, mit meiner Mutter allein zu sein, für den Fall, daß sie wieder mit mir reden wollte. Ich wußte aus der Schule, daß sie falsch lag. Aber jedesmal, wenn ich jetzt dranging, einoder zweimal am Tag, kam mir das Bild von zwei Milchflaschen in den Sinn, voll Blut und mit Alufolie verschlossen. Ich verbrachte mehr Zeit mit Sue. Sie mochte mich anscheinend, oder war jedenfalls bereit, mich nicht zu beachten. Sie verbrachte viel Zeit mit Lesen zu Hause in ihrem Zimmer, und sie hatte nie etwas dagegen, wenn ich dort herumlag. Sie las Romane über Mädchen ihres Alters, dreizehn Jahre oder so, die in ihrem Internat Abenteuer erlebten. Von der Stadtbibliothek lieh sie sich große illustrierte Bücher aus, über Dinosaurier oder Vulkane oder die Fische der tropischen Meere. Manchmal blätterte ich sie durch und sah mir die Bilder an. Von den Texten interessierte mich keiner. Ich mißtraute den Zeichnungen von den Dinosauriern und sagte Sue, niemand könne wirklich wissen, wie sie aussahen. Sie erzählte mir von den Skeletten und all den Anhaltspunkten, die zu einer Rekonstruktion nützlich sein konnten. Wir stritten den ganzen Nachmittag. Sie wußte weit mehr als ich, doch war ich fest entschlossen, sie nicht gewinnen zu lassen. Schließlich, gelangweilt und am Ende unserer Geduld, ließen wir mißmutig voneinander ab. Aber am häufigsten unterhielten wir uns wie Verschwörer über die Familie und alle unsere anderen Bekannten, und stellten genaue Betrachtungen über ihr Verhalten und Aussehen an, darüber, wie sie »eigentlich« waren. Wir fragten uns, wie krank unsere Mutter war. Sue hatte gehört, wie sie zu Julie sagte, sie wolle doch wieder zu einem andern Arzt gehen. Wir waren uns einig, daß sich unsere ältere Schwester reichlich aufspielte. Ich sah Sue jetzt nicht mehr als Mädchen. Sie war, anders als Julie, bloß eine Schwester, eine Person. An einem langen Sonntagnachmittag kam Julie herein, als wir uns gerade über unsere Eltern unterhielten. Ich hatte gesagt, sie hätten sich insgeheim gehaßt, und Mutter sei erleichtert gewesen, als Vater starb. Julie setzte sich aufs Bett neben Sue, schlug die Beine übereinander und gähnte. Ich schwieg und räusperte mich.
    »Nur zu«, sagte Julie, »klingt interessant.«
    Ich sagte, »Es war weiter nichts.«
    »Ach«, sagte Julie. Sie wurde ein wenig rot und senkte den Blick.
    Nun räusperte sich Sue, und alle warteten.
    Ich sagte unbedacht, »Ich sagte nur, ich glaube nicht, daß Mammi Dad je wirklich gerngehabt hat.«
    »Ach nein?« sagte Julie mit gespieltem Interesse. Sie ärgerte sich.
    »Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Weißt du’s
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher