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Der Zementgarten

Der Zementgarten

Titel: Der Zementgarten
Autoren: Ian McEwan
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>Greensleeves    Schon allein der Titel irritierte mich. »Kannst du nicht aufhören, die andern herumzukommandieren«, sagte ich. »Du bist doch nicht der liebe Gott, oder?«
    Sue mischte sich ein. »Mach du was, Julie.«
    Während Julie und ich redeten, hatte Tom sich die Schuhe ausgezogen und war zu Mutter ins Bett geklettert. Sie legte den Arm um ihn und sah uns an, als wären wir weit weg.
    »Genau«, sagte ich zu Julie, »mach du mal was zur Abwechslung.«
    Wortlos stürzte Julie sich in den Platz, den wir für Toms Radschlagen freigemacht hatten, und plötzlich stand ihr Körper umgekehrt da, nur von den Händen gestützt, straff und schlank und vollkommen ruhig. Der Rock fiel ihr über den Kopf. Ihr Höschen hob sich in strahlendem Weiß gegen die hellbraune Haut ihrer Beine ab, und ich konnte sehen, wie sich der Stoff um das Gummiband fältelte, das sich um ihren flachen, muskulösen Bauch spannte. Ein paar schwarze Haare kräuselten sich aus dem weißen Zwickel. Ihre Beine, die erst geschlossen waren, öffneten sich jetzt langsam wie Riesenarme. Julie brachte ihre Beine wieder zusammen, ließ sie auf den Fußboden herunter und stand auf. Einen verwirrten, wilden Augenblick später war ich aufgesprungen und sang »Greensleeves« mit bebendem, leidenschaftlichem Tenor. Als ich zu Ende war, klatschten alle, und Julie drückte mir die Hand. Mutter lächelte schlaftrunken. Alles wurde schnell aufgeräumt; Julie hob Tom aus dem Bett, Sue trug die Teller und die Überreste des Kuchens weg, und ich nahm die Stühle.
      
      
4
    An einem heißen Nachmittag fand ich einen Vorschlaghammer, verborgen unter Unkraut und hohem Gras. Ich war im Garten eines der leerstehenden Fertighäuser und stocherte gelangweilt herum. Das Gebäude selber war ein halbes Jahr zuvor in Flammen aufgegangen. Ich stand in dem geschwärzten Wohnzimmer, in dem die Decke eingefallen und die Fußbodenbretter ausgebrannt waren. Eine Zwischenwand war stehengeblieben und hatte in der Mitte noch eine Durchreiche zur Küche hin. Eine ihrer kleinen Holztüren hing noch in den Angeln. In der Küche klammerten sich abgebrochene Stücke der Wasser- und Stromleitungen an die Wand, und auf dem Boden lag ein zerbrochenes Becken. In allen Zimmern strebten hohe Unkräuter ans Licht. Die meisten Häuser waren vollgestopft mit unbeweglichen Gegenständen, jeder an seinem Platz, und jeder mit seinen Befehlen - da hatte man zu essen, da zu schlafen, da zu sitzen. Aber an diesem ausgebrannten Ort gab es keine Ordnung, alles war verschwunden. Ich versuchte mir Teppiche vorzustellen, Kleider, Schränke, Bilder, Stühle, eine Nähmaschine in diesen gähnenden und kaputtgeschlagenen Räumen. Es gefiel mir, wie unerheblich, wie kümmerlich sich solche Dinge jetzt ausnahmen. In einem Zimmer krümmte sich eine Matratze zwischen schwarzen, abgebrochenen Dielenbalken. Die Wand war rings um das Fenster abgebröckelt, und die Decke war fast bis auf den Boden eingesunken. Die Leute, die auf dieser Matratze geschlafen hatten, dachte ich, hatten wirklich geglaubt, sie wären »im Schlafzimmer«. Es war für sie selbstverständlich, daß das immer so bleiben würde. Ich dachte an mein eigenes Schlafzimmer, an das von Julie, von meiner
    Mutter, an alle Zimmer, die eines Tages einstürzen würden. Ich war gerade über die Matratze geklettert und hatte mir, auf einer Mauerkante balancierend, diese Gedanken gemacht, als ich den Stiel des Vorschlaghammers im Gras sah. Ich sprang hinunter und griff danach. Graue Asseln hatten sich unter dem schweren Eisenblock eingenistet und liefen jetzt in wilder Aufregung hin und her über ihr kleines Stück Erde. Ich ließ den Hammer auf sie heruntersausen und fühlte, wie unter mir der Erdboden bebte.
    Es war ein schöner Fund, wahrscheinlich liegengelassen von der Feuerwehr oder einer Abbruchkolonne. Ich nahm ihn quer auf die Schulter und trug ihn heim, und fragte mich dabei, was ich zweckmäßig damit zerschlagen konnte. Der Steingarten fiel von selber auseinander und war zugewachsen. Es gab nur die Steinplatten, auf die man losgehen konnte, und die hatten auch schon Sprünge. Ich entschied mich für den Zementweg - fünf Meter lang und sechs Zentimeter dick. Einen Zweck hatte er auch nicht. Ich zog mir das Hemd aus und machte mich an die Arbeit. Beim ersten Schlag bröckelte etwas Zement ab, aber mit dem nächsten richtete ich nichts aus, nicht einmal einen Sprung. Ich ruhte mich aus und fing wieder an. Diesmal tat sich zu meiner
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