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Der Zementgarten

Der Zementgarten

Titel: Der Zementgarten
Autoren: Ian McEwan
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und fuhr mir liebevoll durchs Haar, dann ging sie schnell hinaus.
    Meine Schwestern und ich spielten nicht mehr miteinander auf Julies Bett. Die Spiele hatten aufgehört, kurz nachdem Vater gestorben war, aber es war nicht sein Tod, der ihnen ein Ende machte. Sue fing an, sich zu zieren. Vielleicht hatte sie etwas in der Schule gelernt und schämte sich, daß sie uns an sich hatte herummachen lassen. Ich war mir nie sicher, weil wir über so etwas nicht reden konnten. Und Julie hielt jetzt noch mehr Abstand. Sie trug Make-up und hatte alle möglichen Geheimnisse. Einmal in der Schule, beim Anstellen zum Mittagessen, hörte ich, wie sie von mir als ihrem »Brüderchen« sprach, und das traf mich. Mit Mutter hatte sie lange Gespräche in der Küche, die abgebrochen wurden, wenn Tom, Sue oder ich plötzlich hereinkamen. Wie Mutter machte auch Julie Bemerkungen über mein Haar und meine Kleidung, freilich nicht sanft, sondern verächtlich.
    »Du stinkst«, sagte sie immer, wenn wir uns nicht vertrugen. »Du stinkst wirklich. Warum wechselst du deine Kleider nicht?« Bei solchen Bemerkungen wurde ich frech.
    »Leck mich am Arsch«, zischte ich dann und ging auf ihre Knöchel los, entschlossen, sie so lang zu kitzeln, bis sie vor Erschöpfung umfiel.
    »Mammi«, rief sie dann, »Mammi, sag’s Jack!« Und schon rief meine Mutter müde von da, wo sie gerade war, »Jack.«
    Als ich Julie zum letztenmal kitzelte, hatte ich gewartet, bis Mutter zum Krankenhaus gegangen war, und mir dann ein Paar riesige, schmutzverkrustete Gartenhandschuhe, die mein Vater zuletzt getragen hatte, übergezogen und war Julie hinauf in ihr Zimmer gefolgt. Sie saß an dem kleinen Schreibtisch, den sie für ihre Hausaufgaben benutzte. Ich stand in der Tür mit den Händen auf dem Rücken.
    »Was willst du?« sagte sie mit offenem Abscheu. Wir hatten zuvor unten Streit gehabt.
    »Jetzt bist du dran«, sagte ich einfach und streckte meine riesigen Hände nach ihr aus, die Finger gespreizt. Allein der Anblick, wie sie auf sie zukamen, machte sie schwach. Sie wollte aufstehen, fiel aber in ihren Stuhl zurück.
    »Untersteh dich«, sagte sie unter immer wieder aufsteigendem Gekicher. »Untersteh dich, du.«
    Die großen Hände waren immer noch Zentimeter von ihr entfernt, und sie wand sich auf dem Stuhl und quiekte, »Nein. nein. nein.«
    »Doch«, sagte ich, »deine Zeit ist um.« Ich zog sie am Arm auf ihr Bett. Sie lag mit angezogenen Knien da und hob die Hände schützend an die Kehle. Sie wagte den Blick nicht von den großen Händen zu wenden, die ich über sie hielt, bereit, über sie herzufallen.
    »Laßt mich in Ruhe«, flüsterte sie. Es kam mir komisch vor, daß sie die Handschuhe anredete und nicht mich.
    »Jetzt kriegen sie dich«, sagte ich und ließ die Hände ein paar Zentimeter sinken. »Aber keiner weiß, wo sie zuerst zuschlagen.« Kraftlos wollte sie meine Handgelenke festhalten, aber ich schlüpfte mit meinen Händen unter den ihren durch, und die Handschuhe klammerten sich fest um ihren Brustkorb, tief in ihren Achselhöhlen. Wie Julie lachte und lachte, und nach Luft rang, lachte ich auch und genoß meine Macht. Nun kam ein Anflug von Panik in ihr Umsichschlagen. Sie konnte nicht einatmen. Sie versuchte, »bitte« zu sagen, aber in meinem Übermut konnte ich nicht aufhören. Noch immer kam Luft aus ihren Lungen mit kleinen, glucksenden Vogellauten. Eine Hand zerrte an dem groben Stoff des Handschuhs. Als ich vorrutschte, um sie besser untenhalten zu können, spürte ich, wie eine warme Flüssigkeit sich über mein Knie ausbreitete. Entsetzt sprang ich vom Bett und schüttelte die Handschuhe ab. Julies letzte Auflacher verebbten zu müdem Weinen. Sie lag auf dem Rücken, Tränen rannen durch die Mulde über ihren Backenknochen und verloren sich in ihrem Haar. Im Zimmer roch es nur schwach nach Urin. Ich hob die Handschuhe vom Boden auf. Julie wandte den Kopf.
    »Verschwinde«, sagte sie matt.
    »Entschuldige«, sagte ich.
    »Ver. schwinde.«
    Tom und Sue standen in der Tür und schauten.
    »Was ist passiert?« fragte mich Sue, als ich herauskam.
    »Nichts«, sagte ich und schloß die Tür sehr leise.
    Etwa zu dieser Zeit ging Mutter immer öfter abends früh zu Bett. Sie sagte, sie könne sich kaum wachhalten.
    »Ein paar Nächte hintereinander früh ins Bett«, sagte sie, »und ich bin wieder die alte.«
    Damit war Julie für Abendessen und Schlafengehen verantwortlich. Sue und ich waren im Wohnzimmer und hörten Radio. Julie kam
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