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Der Zementgarten

Der Zementgarten

Titel: Der Zementgarten
Autoren: Ian McEwan
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meistens gingen sie die Straße weiter bis zu den Fertighäusern, wo sie die Wände umschmissen und mitnahmen, was sie finden konnten. Einmal hatten sie eins angezündet, und niemand hatte sich groß drum gekümmert. Unser Haus war alt und geräumig. Es sollte in der Bauart ein wenig wie ein Schloß wirken, mit dicken Mauern, niedrigen Fenstern und Zinnen über der Haustür. Von der anderen Straßenseite her sah es aus wie ein Gesicht, das sich konzentriert, sich an etwas erinnern will.
    Nie kam jemand bei uns zu Besuch. Weder meine Mutter noch mein Vater bei seinen Lebzeiten hatten wirkliche Freunde außerhalb der Familie. Sie waren beide Einzelkinder, und meine Großeltern waren alle tot. Meine Mutter hatte entfernte Verwandte in Irland, aber die hatte sie seit ihrer Kindheit nicht mehr gesehen. Tom hatte ein paar Freunde, mit denen er manchmal auf der Straße spielte, aber wir ließen ihn nie sie mit ins Haus bringen. Es gab jetzt nicht einmal mehr einen Milchmann in unserer Straße. Soweit ich mich erinnerte, waren unsere letzten Besucher die Sanitäter gewesen, die meinen Vater abgeholt hatten.
    Ich blieb einige Minuten lang stehen und überlegte, ob ich wieder hineingehen und zu meiner Mutter etwas Versöhnliches sagen sollte. Ich wollte gerade weitergehen, als die Haustür aufging und Julie herausschlüpfte. Sie trug ihren Schulregenmantel aus schwarzem Gabardine, den Gürtel fest um die Taille gezogen, und den Kragen hochgestellt. Sie drehte sich schnell um und erwischte die Haustür grade noch, bevor sie zuknallte, und ihr Mantel, Rock und Unterrock wirbelten mit ihr herum: der gewünschte Effekt. Sie hatte mich noch nicht gesehen. Ich schaute ihr zu, wie sie sich die Schultasche über die Schulter warf. Julie konnte rennen wie der Wind, aber gewöhnlich ging sie, als schlafe sie, im Schneckentempo, mit aufrechtem Rücken und sehr geradlinig. Sie schien oft tief in Gedanken, aber wenn wir sie fragten, behauptete sie immer, sie hätte nichts im Kopf.
    Sie sah mich erst, als sie auf der anderen Straßenseite war, und schaute dann halb lächelnd, halb schmollend drein und schwieg. Ihr Schweigen machte uns allen etwas Angst vor ihr, aber auch da behauptete sie, mit vor Versonnenheit melodischer Stimme, sie hätte die Angst. Es stimmte, sie war schüchtern - einem Gerücht zufolge wurde sie jedesmal rot, wenn sie vor der Klasse was sagte - aber sie hatte die ruhige Kraft und Distanziertheit und lebte in der abgesonderten Welt derer, die insgeheim auch wissen, daß sie ungewöhnlich schön sind. Ich ging neben ihr her, und sie blickte starr vor sich hin, ihr Rücken gerade wie ein Lineal und die Lippen leicht geschürzt.
    Hundert Meter weiter mündete unsere Straße in eine andere. Einige Reihenhäuser standen hier noch. Die übrigen, und alle Häuser in der nächsten Querstraße, waren abgerissen worden, um Platz zu schaffen für vier zwanzigstöckige Hochhäuser. Diese standen auf weiten aufgesprungenen Asphaltbuchten, aus denen das Unkraut wuchs. Sie sahen noch älter und trauriger aus als unser Haus. An ihren Betonwänden zogen sich in ganzer Länge riesige, fast schwarze Flecken hin, die vom Regen kamen. Sie trockneten nie aus. Als Julie und ich am Ende unserer Straße anlangten, packte ich sie mit einem Sprung beim Handgelenk und sagte, »Gestatten Sie, Ihre
    Schultasche«. Julie riß ihren Arm los und ging weiter. Ich tänzelte rückwärts vor ihr herum. Ihr brütendes Schweigen ließ mich immer lästig werden.
    »Willste raufen? Willste n Wettlauf?« Julie senkte den Blick und setzte ihren Weg fort. Ich sagte in normalem Tonfall, »Was hast du?«
    »Nichts.«
    »Bist du sauer?«
    »Ja.«
    »Auf mich?«
    »Ja.«
    Ich blieb einen Moment still, bevor ich weitersprach. Julie war schon dabei, mir zu entgleiten, vertieft in irgendwelche Gedankenbilder ihres Ärgers. Ich sagte, »Wegen Mammi?« Wir waren auf der Höhe des ersten Wohnblocks und konnten in die Vorhalle hineinsehen. Ein Rudel Kinder aus einer anderen Schule standen am Liftschacht versammelt. Sie lehnten an den Wänden ohne zu reden. Sie warteten darauf, daß jemand mit dem Aufzug herunterkam.
    Ich sagte, »Gut, dann geh ich zurück.« Ich blieb stehen. Julie zuckte mit den Achseln und machte mit einer plötzlichen Handbewegung deutlich, daß sie mich zurückließ.
    Auf dem Rückweg zu unserer Straße traf ich Sue. Sie ging mit einem offenen Buch vor sich. Ihren Schulranzen hatte sie fest und hoch an den Schultern festgeschnallt. Tom ging ein paar
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