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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition)
Autoren: David Mitchell
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frühstückten gemeinsam. Er logiert schon seit Mitte October in der Musket , nachdem er mit der Namorados , einem brasilianischen Kauffahrteyschiffe, von Fidschi, wo er in einer Missionsstation seinen Beruf practicierte, hierherkam. Nun wartet er auf einen längst überfälligen australischen Robbenfänger, die Nellie, welcher ihn nach Sydney bringen soll. In der Colonie wird er sich eine Position an Bord eines Passagierschiffes nach dem heimathlichen London suchen.
    Mein Urtheil über Dr.   Goose war ungerecht u. voreilig. Man muß schon cynisch sein wie Diogenes, um in meinem Berufe zu reüssieren, aber Cynismus kann einen für höhere Werthe blind machen. Der Doctor hat so seine Grillen, über die er für ein Gläschen portugiesischen Pisco (nie im Übermaße) mit Freuden berichtet, doch ich will ihm zugestehen, daß er östlich von Sydney u. westlich von Valparaiso der einzige andere Gentleman in diesen Breiten ist. Vielleicht setze ich ihm sogar ein Empfehlungsschreiben für die Partridges in Sydney auf, zumal Dr.   Goose u. der liebe Fred aus ein u. demselben Holze geschnitzt sind.
    Da mein morgendlicher Ausgang von schlechtem Wetter vereitelt wurde, fabulierten wir beim Torffeuer, u. die Stunden entschwanden wie Minuten. Die meiste Zeit sprach ich von Tilda u. Jackson sowie von meinen Befürchtungen hinsichtlich des «Goldrausches» in San Francisco. Unsere Unterhaltung wanderte von meiner Heimathstadt zu meinen gegenwärthigen Pflichten als Notar in Neusüdwales, von dort über Egel u. Eisenbahnen zu Gibbon, Malthus u. Goodwin. Eine gepflegte Unterhaltung ist wie Balsam, den ich an Bord der Prophetess schmerzlich entbehre, u. der Doctor ist ein wahrer Universalgelehrter. Darüber hinaus besitzt er eine hübsche Armee handgeschnitzter Schachfiguren, von denen wir eifrig Gebrauch machen werden, bis entweder die Prophetess ausläuft oder die Nellie eintrifft.
     
    Sonnabend, 9. November ~
     
    Sonnenaufgang, glänzend wie ein Silberdollar! Unser Schoner draußen in der Bucht bietet weiterhin ein jammervolles Bild. Am Ufer wird ein indisches Kriegskanu ausgebessert. Henry u. ich schlugen in Feiertagslaune den Weg zum «Festmahlsstrand» ein u. grüßten frohgemuth das Mädchen, das im Dienste Mr.   Walkers steht. Das mürrische Ding hängte Wäsche über einen Busch u. schenkte uns keinerlei Beachtung. Sie hat einen Tropfen schwarzen Blutes u. ich vermuthe, ihre Mutter ist noch eng mit dem Urwaldstamme verwandt.
    Während wir unterhalb des indischen Weilers einhergingen, erregte ein «Summen» unsere Neugier, u. wir kamen überein, seinen Ursprung zu ergründen. Die Ansiedlung ist von einem Lattenzaune umgeben, so morsch allerdings, daß sich wohl an einem Dutzend Stellen Zutritt finden ließe. Eine kahle Hündin hob ihren Kopf, doch sie war zahnlos u. schien vor sich hin zu sterben, denn sie bellte nicht. Ein äußerer Ring von Ponga-Hütten (errichtet aus Zweigen, Lehm u. abgedeckt mit Matten) stand geduckt im Windschatten «erhabener» Wohnstätten, Holzbauten mit geschnitzten Thürstürzen u. einfachen Portalen. Im Centrum des Dorfes fand eine öffentliche Auspeitschung statt. Henry u. ich waren die einzigen anwesenden Weißen, während die zuschauenden Inder sich in drei gesellschaftliche Gruppen untertheilten. Der Häuptling saß in einem mit Federn geschmückten Mantel auf seinem Throne, umgeben von den tatauierten Vornehmen samt ihren Weibern u. Kindern, alles in allem etwa dreißig Leute. Die Sclaven, dunkelhäutiger als ihre nußbraunen Herren u. an Zahl weniger als die Hälfte, hockten abseits im Schlamm. Welch angeborene, thierische Stumpfheit! Von Pockennarben u. eitrigen haki-haki -Pusteln gezeichnet, beobachten diese armen Teufel den Strafvollzug ohne jede Reaktion außer diesem absonderlichen bienenartigen «Summen». Ob das Geräusch Antheilnahme oder Verdammung ausdrückte, war uns nicht ersichtlich. Der Auspeitscher war ein Goliath, dessen physische Kraft jeden Preisboxer im Grenzland das Fürchten lehren würde. Jeder Zoll seines muskulösen Leibes war mit Eidechsen unterschiedlichster Größe tatauiert: seine Haut würde einen schönen Preis erzielen, wobei ich für alle Perlen Hawaiis nicht derjenige sein wollte, sie ihm abzuziehen. Der bedauernswerthe Häftling, eisgrau von vielen entbehrungsreichen Jahren, war nackt an einen Dreiecksrahmen gefesselt. Sein Leib erzitterte unter jedem Peitschenhieb, der sich in seine Haut schnitt; sein Rücken glich einem Pergament voll blutiger Runen,
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