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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition)
Autoren: David Mitchell
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beschützen. «Umarme deinen Feind», drängten sie, «u. halte ihn so davon ab, dich zu schlagen.» («Umarme deinen Feind», witzelte Henry, «u. fühle, wie sein Dolch deine Nieren kitzelt.»)
    Die Älteren erhielten die Mehrheit, doch es nützte wenig. «Wenn es ihnen, was die Zahl angeht, an Überlegenheit fehlt», erklärte uns Mr.   D’Arnoq, «suchen die Maori sich einen Vortheil zu verschaffen, indem sie zuerst u. mit äußerster Härte zuschlagen, was viele unglückliche Briten u. Franzosen von ihren Gräbern aus bezeugen können.» Die Ngati Tama u. die Ngati Mutunga hatten ihrerseits Rathsversammlungen abgehalten. Als die Männer der Moriori von ihrem Palaver zurückkehrten, wurden sie aus dem Hinterhalt überfallen, u. es begann eine Nacht der Schändlichkeit, entsetzlicher als jeder Albtraum: Dörfer wurden geplündert u. niedergebrannt, wahllos Metzeleyen verübt, Männer u. Frauen wurden in Reihen am Strand gepfählt, Kinder, die sich in Erdlöchern versteckt hatten, wurden von Schweißhunden aufgespürt u. zerrissen. Einige Häuptlinge handelten im Hinblicke auf das Morgen u. erschlugen nur so viele, wie sie für nöthig befanden, um den übrigen einen von Furcht erfüllten Gehorsam einzutrichtern. Andere Häuptlinge waren nicht so zurückhaltend. Auf dem Waitangi-Strand wurden fünfzig Moriori geköpft, zerlegt, in Flachsblätter gewickelt u. mit Jamswurzeln u. Süßkartoffeln in einem gewaltigen Erdofen gebacken. Nicht einmal die Hälfte der Moriori, die den letzten Sonnenuntergang des alten Rēkohu gesehen hatten, erlebten noch den Aufgang der Maori-Sonne. («Heute giebt es weniger als einhundert reinrassige Moriori», beklagte Mr.   D’Arnoq. «Auf dem Papiere hat die britische Krone diese schon vor vielen Jahren vom Joch der Sclaverei befreit, aber die Maori scheren sich nicht um Papiere. Wir sind sieben Tagesreisen vom Gouverneurspalast entfernt, u. Ihre Majestät unterhält keine Garnison auf Chatham.»)
    Ich frug, warum die Weißen den Maori während des Massakers nicht Einhalt geboten hätten.
    Mr.   Evans war aus seinem Nickerchen erwacht u. nicht halb so taub, wie ich gemuthmaßt hatte. «Haben Sie jemals Maori-Krieger im Blutrausch gesehen, Mr.   Ewing?»
    Ich gab zu, daß dies nicht der Fall sei.
    «Aber Sie haben sicher schon Haie im Blutrausche gesehen, nicht wahr?»
    Dieses bestätigte ich.
    «Es verhält sich ganz ähnlich. Stellen Sie sich vor, ein blutendes Kalb paddelt in einem von Haien verseuchten, flachen Gewässer. Was thun? Sich vom Wasser fernhalten oder versuchen, den Mäulern der Haie Einhalt zu gebieten? Genau dies war unsere Wahl. Oh, natürlich halfen wir den wenigen, die an unsere Thür kamen – unser Schäfer Barnabas war einer von ihnen –, aber wären wir in jener Nacht hinausgegangen, man hätte uns niemals wiedergesehen. Bedenken Sie, wir Weißen zählten damals in Chatham weniger als fünfzig Mann. Die Maori insgesamt neunhundert. Die Maori dulden uns Pakeha, Mr.   Ewing, aber sie verachten uns. Vergessen Sie das niemals.»
    Was ist die Moral von der Geschichte? Obgleich unser Herr ihn so sehr liebt, ist Frieden nur dann eine Kardinaltugend, wenn wir mit unseren Nachbarn dasselbe Gewissen theilen!
     
    Nachts ~
     
    Mr.   D’Arnoqs Name ist in der Musket nicht beliebt. «Ein weißer Schwarzer, eine halbblütige Promenadenmischung von einem Mann», sagte Walker zu mir. «Niemand weiß, was er wirklich ist.» Suggs, ein einarmiger Schäfer, der unter dem Schanktische wohnt, behauptete steif u. fest, unser Bekannter sei ein bonapartistischer General, der sich hier unter fremder Fahne verstecke. Ein anderer schwor Stein u. Bein, er sei ein Polacke.
    Gleichfalls unbeliebt ist das Wort «Moriori». Ein betrunkener Maori-Mischling erzählte mir, die ganze Geschichte der Ureinwohner sei nur ein Hirngespinst dieses «verrückten alten Lutheraners» u. daß Mr.   D’Arnoq sein Moriori-Evangelium nur deshalb predige, um seine eigenen betrügerischen Landansprüche gegen die Maori zu rechtfertigen, den wahren Eigenthümern von Chatham, die seit unvordenklichen Zeiten mit ihren Kanus von Insel zu Insel gefahren seien. James Coffee, ein Schweinezüchter, meinte, die Maori hätten dem weißen Manne einen Dienst erwiesen, als sie eine andere viehische Rasse ausrotteten, um Platz für uns zu schaffen. Er fügte hinzu, daß die Russen die Kosaken darin unterrichteten, den Sibiriern auf ganz ähnliche Weise «das Fell zu gerben».
    Ich hielt dagegen, die schwarzen
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