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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition)
Autoren: David Mitchell
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Völker zu bekehren, nicht sie auszurotten sei doch unsere Aufgabe, denn schließlich habe Gottes Hand auch sie erschaffen. Die ganze Kneipengesellschaft fiel wegen meines «sentimentalen Yankee-Geschwätzes» über mich her. «Der Beste von denen ist nicht zu gut, um wie ein Schwein zu sterben!» schrie einer. «Das einzige Evangelium, das ein Schwarzer capiert, ist das Evangelium der v—n Peitsche!» Ein weiterer rief: «Wir Briten haben in unserem Reiche die Sclaverei abgeschafft – so viel kann kein Amerikaner von sich behaupten!»
    Henrys Standpunkt war, gelinde formuliert, uneindeutig. «Nach jahrelanger Arbeit mit Missionaren bin ich versucht festzustellen, daß ihre Bemühungen lediglich die Pein eines aussterbenden Volkes um zehn bis zwanzig Jahre verlängern. Ein mitleidiger Bauer erschießt sein getreues Pferd, wenn es zu alt ist, den Pflug zu ziehen. Wäre es nicht unsere Pflicht als Menschenfreunde, die Leiden der Wilden in gleicher Weise zu lindern, indem wir ihre Auslöschung vorantreiben ? Denken Sie an Ihre Indianer, Adam, denken Sie an die Verträge, die ihr Amerikaner, wieder u. immer wieder annulliert u. gebrochen habt. Ist es nicht humaner u. gewiß auch ehrenwerther, den Wilden eins über den Schädel zu schlagen u. die Sache hinter sich zu bringen?»
    Es giebt so viele Wahrheiten wie Menschen. Gelegentlich erhascht mein Blick eine wahrhaftigere Wahrheit, die sich in unvollkommenen Abbildern ihrer selbst verbirgt, doch sobald ich mich ihr nähere, rafft sie sich auf u. zieht sich noch tiefer in den dornenreichen Sumpf der Uneindeutigkeiten zurück.
     
    Dienstag, 12. November ~
     
    Unser ehrenwerther Cpt. Molyneux beehrte heute die Musket , um mit meinem Wirthe den Preis für fünf Fässer gepökeltes Rindfleisch auszuhandeln. (Die Angelegenheit wurde mit einer wilden Partie Trentuno ausgefochten, welche der Capitain gewann.) Bevor er zur Werft zurückkehrte, um den Reparaturfortschritt zu überprüfen, ersuchte Cpt. Molyneux, sehr zu meiner Überraschung, Henry um einige vertrauliche Worte in dessen Zimmer. Die Besprechung dauert an, während ich dies schreibe. Man hat meinen Freund vor des Capitains tyrannischem Wesen gewarnt, aber dennoch, mir gefällt das nicht.
     
    Später ~
     
    Cpt. Molyneux, so viel ist durchgesickert, leidet an medicinischen Beschwerden, die, so sie nicht behandelt werden, seine Tauchfähigkeit beeinträchtigen könnten, welche für die Ausübung seines Dienstpostens erforderlich ist. Der Capitain hat Henry deshalb vorgeschlagen, mit uns nach Honolulu zu reisen (eigene Kajüte u. Verpflegung frei) u. bis zum Ende unserer Reise sowohl das Amt des Schiffsarztes als auch des Leibarztes von Cpt. Molyneux zu übernehmen. Mein Freund erklärte, er habe eigentlich die Absicht, nach London zurückzukehren, aber Cpt. Molyneux war äußerst beharrlich. Henry versprach, das Angebot zu überdenken u. sich bis Freitag morgen zu entscheiden, dem Tag, welcher nun für die Abfahrt der Prophetess festgesetzt ist.
    Henry benannte die Krankheit des Capitains nicht, u. ich frug auch nicht danach, doch man muß kein Äsculap sein, um zu erkennen, daß Cpt. Molyneux von der Gicht befallen ist. Seine Verschwiegenheit macht meinem Freunde große Ehre. Wie exzentrisch Henry Goose sich als Sammler von Curiositäten auch gebärden mag, ich halte den Arzt Goose für einen begnadeten Heilkünstler, u. es ist meine innigste, wenn auch selbstsüchtige Hoffnung, daß Henry dem Vorschlage des Capitains seine Zusage ertheilen möge.
     
    Mittwoch, 13. November ~
     
    Ich komme zu meinem Tagebuche wie ein Katholik zu seinem Beichtvater. Meine Blessuren bestätigen, daß die außerordentlichen Geschehnisse der letzten fünf Stunden keine durch mein Leiden heraufbeschworene Sinnestäuschung waren, sondern sich wahrhaftig ereignet haben. Ich werde schildern, was mir am heutigen Tage widerfahren ist, wobei ich mich so eng als möglich an die Thatsachen halte.
    Heute morgen stattete Henry der Witwe Bryden einen weiteren Besuch ab, um ihre Schiene zu richten u. ihr einen neuen Breiumschlag anzulegen. Statt mich dem Müßiggange hinzugeben, beschloß ich, eine nördlich von Ocean Bay gelegene Anhöhe zu erklimmen, die als der Kegelberg bekannt ist u. deren luftiger Gipfel den besten Ausblick auf das «Hinterland» der Chatham-Insel erlaubt. (Henry, als Mann in den reiferen Jahren, besitzt zuviel Verstand, um unerschlossene Inseln zu durchstreifen, die von Cannibalen bevölkert sind.) Der träge
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