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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition)
Autoren: David Mitchell
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eines Fockmastes entsprechend), ohne schlimmere Verletzungen davongetragen zu haben, dankte ich unserem Herrn für meine Errettung, denn in der That heißt es: Du riefest mich in der Noth, u. ich habe dich erhört, da dich das Wetter überfiel.
    Meine Augen gewöhnten sich an das schummrige Licht u. wurden eines unauslöschlichen, furchterregenden u. zugleich erhabenen Anblickes gewahr: Erst ein, dann zehn, dann hunderte Gesichter tauchten aus dem immerwährenden Dämmerlichte auf, von Götzenanbetern mit Streitäxten in die Rinden der Bäume geschlagen, als wären Waldgeister im Banne eines bösen Zauberers zu Salzsäulen erstarrt. Mit keinem Wort ist dieser Stamm von Fabelwesen wahrheitsgetreu zu umschreiben! Vielleicht können nur leblose Wesen so lebendig sein. Ich fuhr mit den Daumen über die grausigen Fratzen. Zweifellos war ich, seit seinen prähistorischen Anfängen, der erste Weiße in diesem Mausoleum. Die jüngste Holzskulptur zählt wohl nicht mehr als zehn Jahre, doch die alten, mit den Bäumen mitgewachsenen, wurden von Heiden geschnitzt, deren Geister längst vergessen sind. Diese Alterthümer waren gewiß das Werk von Mr.   D’Arnoqs Moriori.
    Die Zeit schritt voran an diesem verzauberten Ort, u. ermuthigt von der Erkenntniß, daß auch die Schöpfer dieser «Baumbilder» einen ganz gewöhnlichen Ausgang aus diesem Höllenschlunde gefunden haben mußten, suchte ich nach einem möglichen Fluchtweg. Eine Wand sah weniger steil aus als die anderen, u. faserige Schlingpflanzen boten eine Art Takelage. Ich wollte gerade mit dem Aufstiege beginnen, als ein rätselhaftes «Summen» meine Aufmerksamkeit erregte. «Wer da?» rief ich (etwas übereilt für einen unbewaffneten weißen Eindringling in einem heidnischen Schrein). «Gib dich zu erkennen!» Die Stille verschluckte meine Worte samt Echo u. verhöhnte mich. Mein Leiden regte sich in meiner Milz. Das «Summen» führte mich zu einem Fliegenschwarm; dieser umkreiste einen Klumpen, aufgespießt auf einem abgebrochenen Zweig. Ich stach mit einem Kiefernstecken in den Klumpen u. erbrach mich fast, denn es handelte sich um ein Stück stinkenden Aases. Ich wollte mich zur Flucht wenden, doch die Pflicht gebot mir, den schlimmen Verdacht zu zerstreuen, es sei ein menschliches Herz, das an diesem Baume hing. Ich bedeckte Mund u. Nase hinter meinem Schnupftuch u. berührte mit dem Stecken ein fast abgetrenntes Stück. Das Organ zuckte, als wäre es lebendig! Brennend schoß mein Leiden die Wirbelsäule hinauf! Wie in einem Traum (doch es war kein Traum!) erschien ein durchsichtiger Salamander aus seiner fauligen Behausung u. flitzte über den Stecken auf meine Hand zu! Ich schleuderte den Stecken fort, ohne zu sehen, wohin das Thier verschwand. Furcht breitete sich in mir aus, u. ich machte mich eilig daran, meine Flucht zu bewerkstelligen. Leichter notiert denn gethan. Wäre ich nämlich ausgerutscht u. erneut von diesen schwindelerregenden Wänden abgestürzt, hätte das Schicksal meinen Fall womöglich kein zweites Mal abgefedert. Aber es waren Fußtritte in den Fels gehauen, u. so erreichte ich ohne weiteres Mißgeschick den Kraterrand.
    Zurück im trostlosen Nebel, sehnte ich mich nach der Gesellschaft von Menschen meiner Hautfarbe, ja, selbst nach den rüpelhaften Seeleuten aus der Musket u. begann, in der Hoffnung, nach Süden zu gelangen, meinen Abstieg. Mein anfänglicher Entschluß, über alles zu berichten, was ich gesehen hatte (müßte nicht zumindest Mr.   Walker, der factische, wenn nicht sogar rechtmäßige Consul, über den Raub eines menschlichen Herzens unterrichtet werden?), verflüchtigte sich, je mehr ich mich Ocean Bay näherte. Ich bin noch immer unentschlossen, was zu berichten ist u. wem. Sehr wahrscheinlich handelt es sich um das Herz eines Schweines oder eines Schafes. Die Vorstellung, daß Walker u. seinesgleichen die Bäume fällen u. die Holzskulpturen an Sammler verkaufen könnten, verletzt mein Ehrgefühl. Man mag mich der Gefühlsduseley zeihen, doch ich möchte nicht der Verursacher der letzten Schändung der Moriori sein.  1
     
    Abends ~
     
    Das Kreuz des Südens leuchtete schon am Himmel, als Henry in die Musket zurückkehrte, denn er war von etlichen Inselbewohnern aufgehalten worden, die den «Heilkünstler der Witwe Bryden» wegen Schnupfen, Himbeerpocken oder Wassersucht zu consultieren wünschten. «Wenn Kartoffeln Dollar wären», bedauerte mein Freund, «müßte ich jetzt reicher sein als Nebukadnezar!» Er
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