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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition)
Autoren: David Mitchell
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hochschätzten. Viertens senkte das bunte Gemisch von Krankheiten, welche die dunkleren Rassen decimieren, wann immer die weiße Civilisation sich nähert, die Zahl der Eingeborenen weiter nach unten.
    All diese Schicksalsschläge hätten die Moriori womöglich ertragen, wäre Neu-Seeland nicht von Berichten erreicht worden, die Chatham-Inseln seien ein wahres Paradies von mit Schalenthieren bedeckten Buchten, aalreichen Lagunen u. Bewohnern, die sich weder auf Verteidigung noch auf Waffen verstünden. Für die Ohren der Ngati Tama u. der Ngati Mutunga, zweier Stämme der Taranaki Te Ati Awa Maori (in der Genealogie der Maori ist, wie Mr.   D’Arnoq uns versicherte, jeder Familienzweig so verschlungen wie die adorierten Stammbäume des europäischen Landadels, u. in der That kann jedes Kind dieses analphabetischen Volkes im Handumdrehen Namen u. Rang seines Ururgroßvaters benennen), verhießen diese Gerüchte einen Ersatz für die Landstriche aus dem Besitze ihrer Vorfahren, die sie kürzlich in den «Musketenkriegen» verloren hatten. Kundschafter wurden ausgesandt, welche die Leidensfähigkeit der Moriori überprüfen sollten, indem sie gegen ihr tapu verstießen u. ihre heiligen Stätten plünderten. Diesen Provocationen begegneten die Moriori, wie unser Herr Christus es verlangt, indem sie «die andere Backe hinhielten». Die Übelthäter kehrten nach Neu-Seeland zurück, wo sie den augenscheinlichen Kleinmuth der Moriori bestätigten. Die tatauierten Maori- Conquistadores fanden ihre einschiffige Armada bei Captain Harewood von der Brigg Rodney , welcher sich in den letzten Monaten des Jahres 1835 bereit erklärte, im Austausch gegen Saatkartoffeln, Feuerwaffen, Schweine, eine große Lieferung gekämmten Flachses u. eine Kanone neunhundert Maori u. sieben Kriegskanus in zwei Überfahrten zu verschiffen. (Vor fünf Jahren begegnete Mr.   D’Arnoq dem verarmten Harewood in einer Schenke in der Bay of Islands. Zunächst stritt dieser ab, der Harewood von der Rodney zu sein, dann schwor er, er sei dazu gezwungen worden, die Schwarzen zu befördern, aber es blieb undurchsichtig, auf welche Weise dieser Zwang auf ihn ausgeübt worden war.)
    Die Rodney segelte im November von Port Nicholas ab, doch als sie sechs Tage später in der Whangatete-Bucht vor Anker ging, war ihre heidnische Fracht von fünfhundert Männern, Frauen u. Kindern, welche die ganze sechstägige Reise seekrank u. ohne jede Versorgung mit Wasser zusammengepfercht im schmutzigen Kielraum verbracht hatte, in einem so geschwächten Zustande, daß es selbst für die Moriori, hätten sie denn den Willen gehabt, ein leichtes gewesen wäre, ihre kriegerischen Brüder zu erschlagen. Doch anstatt ihr mana durch Blutvergießen zu zerstören, zogen die barmherzigen Samariter es vor, den geschwundenen Überfluß Rēkohus zu theilen, u. sie pflegten die kranken, dem Tode nahen Maori wieder gesund. «Schon früher waren Maori nach Rēkohu gekommen», erklärte Mr.   D’Arnoq, «aber sie waren auch wieder gegangen, weshalb die Moriori annahmen, die Colonisten würden sie gleichfalls in Frieden lassen.»
    Die Großmut der Moriori wurde belohnt, als Cpt. Harewood mit den übrigen vierhundert Maori aus Neu-Seeland zurückkehrte. Die Fremden erhoben nun Anspruch auf Chatham durch takahi , ein Maori-Ritual, welches übersetzt «Das Land ablaufen u. in Besitz nehmen» bedeutet. Das alte Rēkohu wurde somit aufgetheilt u. das Volk der Moriori darüber unterrichtet, daß sie fortan Unterthanen der Maori seien. Anfang December, als einige Dutzend Eingeborene dagegen protestierten, wurden sie schonungslos mit der Streitaxt erschlagen. Die Maori erwiesen sich in den «finsteren Künsten der Colonisierung» als gelehrige Schüler der Engländer.
    Im Osten der Chatham-Insel liegt Te Whanga, eine ausgedehnte Lagune mit fruchtbarem Marschland, das mit jeder Flut bei Te Awapatiki vom Ocean überschwemmt wird. Vor vierzehn Jahren hielten die Moriori auf diesem geheiligten Boden ein Palaver ab. Es währte drei Tage u. behandelte die Frage, ob das Vergießen von Maoriblut ihr mana zerstöre. Die jüngeren Männer führten an, das Bekenntniß zum Frieden beziehe sich nicht auf fremdländische Cannibalen, von denen ihre Vorfahren keine Kenntniß gehabt hätten. Die Moriori müßten töten oder würden selbst getötet werden. Die Älteren rieten zur Beschwichtigung, denn solange die Moriori mit ihren Ländereyen ihr mana wahrten, würden ihre Götter u. Ahnen sie vor allem Übel
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