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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition)
Autoren: David Mitchell
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verdorben) seit meinem Abschiedsessen mit Consul Bax u. den Partridges im Beaumont. Mr.   D’Arnoq unterhielt uns mit Geschichten über Schiffe, die er in den zehn Jahren seines Aufenthaltes auf den Chatham-Inseln beliefert hat, während Henry uns mit Geschichten über hoch- u. niedriggeborene Patienten ergötzte, welche er in London u. Polynesien behandelte. Ich für meinen Theil beschrieb die vielen Unannehmlichkeiten, denen sich ein amerikanischer Notar ausgesetzt sieht, der den australischen Begünstigten eines in Californien zu vollstreckenden Testamentes aufzuspüren hat. Wir spülten unseren Hammeleintopf u. die Apfelknödel mit dem leichten Biere hinunter, das Mrs.   Evans braut u. an Walfänger verkauft. Keegan u. Dyfedd zogen los, um sich um ihr Vieh zu kümmern, während Mrs.   Evans sich ihren Pflichten in der Küche widmete. Henry erkundigte sich danach, ob derzeit auf den Chathams Missionare tätig seien, worauf Mr.   Evans u. Mr.   D’Arnoq Blicke wechselten u. der erstere uns mittheilte: «Nein, die Maori schätzen es gar nicht, wenn wir Pakeha ihre Moriori durch zu viel Civilisation verderben.»
    Ich äußerte Bedenken, ob es überhaupt ein solches Übel wie «zu viel Civilisation» geben könne. Mr.   D’Arnoq antwortete: «Wenn es westlich von Cap Horn keinen Gott gibt, dann gibt es auch jenen Grundsatz Ihrer Verfassung nicht, der ‹Alle Menschen sind gleich geschaffen› heißt, Mr.   Ewing.» Die Begriffe «Maori» u. «Pakeha» waren mir durch den Aufenthalt der Prophetess in der Bay of Island geläufig, aber ich bat um Aufklärung, wen oder was «Moriori» wohl bezeichnen möge. Meine Nachfrage öffnete die Büchse der Pandora, die genauen historischen Abläufe des Verfalles u. Untergangs der Eingeborenen der Chatham-Inseln betreffend. Wir zündeten unsere Pfeifen an. Mr.   D’Arnoqs Schilderungen waren noch nicht beendet, als er drei Stunden später, bevor die hereinbrechende Nacht den Weg auf dem Deiche verdunkelte, nach Port Hutt aufbrechen mußte. Sein historischer Vortrag kann sich für meine Begriffe mit der Feder Defoes oder Melvilles messen, u. ich werde nach einem, so Morpheus will, gesunden Schlafe in diesen Blättern davon berichten.
     
    Montag, 11. November ~
     
    Tagesanbruch trübe u. schwül. Die Bucht wirkt schlammig, doch das Wetter ist mild genug, um die Reparaturen an der Prophetess fortzusetzen. Ich danke Poseidon. In diesem Augenblicke wird ein neues Kreuzbramsegel gehißt.
    Vorhin, als Henry u. ich beim Frühstück saßen, tauchte ein heimlichtuerischer Mr.   Evans auf u. bestürmte meinen Freund, den Doctor, er möge eine zurückgezogen lebende Nachbarin, eine gewisse Witwe Bryden, aufsuchen, die von ihrem Pferde in ein steiniges Schlammloch abgeworfen worden sei. Mrs.   Evans sei schon dort u. befürchte, die Witwe ringe um ihr Leben. Henry holte seine Arzttasche u. brach unverzüglich auf. (Ich bot an, ihn zu begleiten, aber Mr.   Evans bat mich um Nachsicht, denn die Patientin habe ihm das Versprechen abgenommen, daß nur ein Arzt sie in ihrem versehrten Zustande zu Gesicht bekäme.) Walker, der die ganze Angelegenheit mit angehört hatte, erzählte mir, seit zwanzig Jahren habe kein Angehöriger des männlichen Geschlechts die Schwelle dieser Witwe übertreten, u. gelangte zu dem Schluß, daß «die frigide alte Sau aus dem letzten Loch pfeifen muß, wenn sie sich von Dr.   Quacksalber filzen läßt».
     
    Die Ursprünge der Moriori auf «Rēkohu» (der einheimische Name für die Chathams) bleiben bis in unsere Tage verborgen. Mr.   Evans vertritt die Ansicht, sie würden von aus Spanien vertriebenen Juden abstammen, wobei er sich auf ihre Hakennasen u. höhnisch hochgezogenen Lippen beruft. Mr.   D’Arnoqs bevorzugte Theorie, die Moriori seien dereinsten Maori gewesen, deren Kanus vor dieser entlegensten aller Inseln Schiffbruch erlitten hätten, gründet sich auf Ähnlichkeiten von Sprache u. Mythologie u. verfügt daher über einen höheren Grad an Logik. In jedem Fall ist gewiß, daß die Moriori nach Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden des Lebens in Abgeschiedenheit ein ebenso primitives Dasein fristeten wie ihre leidgeprüften Vettern in Van-Diemen’s-Land. Die Kunst des Bootsbaues (über roh zusammengezimmerte Flöße, mit denen sie die Meeresarme zwischen den Inseln überquerten, hinausgehend) u. der Seefahrt gingen verloren. Daß der Erdenkreis noch aus anderen Ländern bestand, welche von anderen Füßen beschritten wurden, ahnten
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