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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition)
Autoren: David Mitchell
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letzten Ruhe gebettet worden, u. bis jetzt ist kein geweihter Nachfolger das Wagniß eingegangen, die Herrschaft über den Altar für sich zu reclamieren. Folglich ist die Gemeinde ein Sammelsurium christlicher Glaubensrichtungen. Bibelabschnitte wurden von jener Hälfte der Gemeinde gelesen, die über die nöthige Bildung verfügten, u. wir übrigen stimmten in die ein, zwei Choräle ein, die vom Vatican benannt wurden. Der «Kirchenvorsteher» dieser volksthümlichen Herde, ein gewisser Mr.   D’Arnoq, stand unter dem einfachen Kreuze u. ersuchte Henry u. mich, uns in irgendeiner Weise zu betheiligen. Eingedenk meiner eigenen Errettung aus dem Sturme der letzten Woche, gab ich Lukas, Cap. 8 an: «Da traten sie zu ihm, wecketen ihn auf u. sprachen: ‹Meister, Meister, wir verderben!› Da stund er auf u. bedräuete den Wind u. die Woge des Wassers; u. es ließ ab, u. ward eine Stille.»
    Henry recitierte den achten Psalm mit so klangvoller Stimme,als wäre er ein geübter Dramatiker: «Du hast ihn zum Herrn gemacht über deiner Hände Werk; alles hast du unter seine Füße gethan: Schafe u. Ochsen allzumal dazu auch die wilden Thiere, die Vögel unter dem Himmel u. die Fische im Meer, u. was im Meer gehet.»
    Das Magnificat spielte kein Organist, sondern der Wind im Rauchfang; das Nunc Dimittis sang kein Chor, sondern die Sturmmöwen; dennoch glaube ich, unser Schöpfer war nicht unzufrieden. Wir glichen eher den Frühchristen in Rom denn irgendeiner späteren, mit Mysterien u. Geprunke überladenen Kirche. Es folgten die Fürbitten. Die Gemeindemitglieder beteten aus dem Stegreif für die Ausrottung der Kartoffelfäule, baten um Erlösung für die Seele eines verstorbenen Kindes, den Segen für ein neues Fischerboot u. so fort. Henry dankte für die Gastfreundschaft, die uns von den Christen der Chatham-Inseln erwiesen wurde. Ich wiederholte seine Bekundungen u. sprach ein Gebet für Tilda, Jackson u. meinen Schwiegervater wegen der langen Dauer meines Fortseins.
    Nach dem Gottesdienste wurden der Doctor u. ich überaus herzlich von einem älteren «Hauptmast» der Gemeinde begrüßt, einem gewissen Mr.   Evans, der uns seiner lieben Frau (beide umschifften die Behinderung, die ihnen durch ihre Schwerhörigkeit verursacht wurde, indem sie nur auf Fragen antworteten, von denen sie glaubten , sie seien gestellt worden, u. nur Antworten acceptierten, von denen sie annahmen , sie seien gegeben worden – eine List, die so mancher amerikanische Anwalt verinnerlicht hat) u. ihren Zwillingssöhnen, Keegan u. Dyfedd, vorstellte. Mr.   Evans gab bekannt, es sei seine Gepflogenheit, Mr.   D’Arnoq, unseren Prediger, jede Woche zum Abendessen in sein nahegelegenes Haus einzuladen, denn letzterer wohne bei Port Hutt, einem Vorgebirge, einige Meilen von hier entfernt. Ob wir die Güthe hätten, ebenfalls an ihrem Sonntagsmahle theilzunehmen? Da ich Henry von dem Sündenbabel in der Musket schon berichtet hatte u. unsere Mägen knurrend aufbegehrten, nahmen wir die freundliche Einladung der Evans dankbar an.
    Der Hof unseres Gastgebers, eine halbe Meile oberhalb von Ocean Bay in einem gewundenen, winddurchbrausten Thale gelegen, erwies sich als ein bescheidenes Gebäude, aber eine feste Burg gegen die rasenden Stürme, die so vielen unglückseligen Schiffen auf den nahegelegenen Riffs das Rückgrat brechen. Die gute Stube bewohnte außer einem gräßlichen Keilerkopfe (verunziert durch ein hängendes Maul u. Glotzaugen), den die Zwillinge an ihrem sechzehnten Geburtstage geschossen hatten, auch eine mondsüchtige Standuhr (welche meiner Taschenuhr um mehrere Stunden voraus war. Die genaue Zeitmessung ist in der That ein wertvoller Import aus Neu-Seeland). Ein indischer Knecht starrte durch die Fensterscheibe auf die Gäste seines Herrn. Nie zuvor habe ich ein so zerlumptes Subject gesehen, doch Mr.   Evans versicherte uns feierlich, der Quarteron «Barnabas» sei der «flinkeste Hütehund, der je auf zwei Beinen gelaufen ist». Keegan u. Dyfedd sind rauhe, schlichte Burschen, hauptsächlich beschlagen in allem, was Schafe betrifft (der Familie gehören 200 Stück), denn beide haben weder jemals die «Stadt» besucht (so bezeichnen die Insulaner Neu-Seeland) noch eine Schulbildung erfahren, abgesehen von dem Bibelunterricht ihres Vaters, mittels dessen sie leidlich gut Lesen u. Schreiben gelernt haben.
    Mrs.   Evans sprach das Tischgebet, u. ich genoß das köstlichste Mahl (weder durch Salz noch Maden oder Flüche
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