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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition)
Autoren: David Mitchell
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sein ungerührtes Antlitz jedoch zeugte von der heiteren Ruhe eines Märtyrers, der sich bereits in des Herrn Obhuth wähnt.
    Ich bekenne, daß ich bei jedem Klatschen der Peitsche einer Ohnmacht nahe war. Dann geschah etwas Sonderbares. Der geprügelte Wilde hob den gebeugten Kopf, sah mir in die Augen u. musterte mich mit einem Blicke unheimlichen, freundschaftlichen Erkennens! Als habe ein Bühnenschauspieler einen lange verloren geglaubten Freund in der königlichen Loge erblickt u. würde nun, vom Publicum unbemerkt, mit dem Wiedergefundenen in Verbindung treten.
    Ein tatauierter «Australneger» kam auf uns zu u. bedeutete uns mit einer kurzen Bewegung seines Nephritdolches, daß wir nicht willkommen seien. Ich erkundigte mich, welchen Vergehens der Gefangene schuldig sei. Henry legte seinen Arm um mich. «Kommen Sie, Adam, ein kluger Mann stellt sich nicht zwischen das Raubthier u. seine Beute.»
     
    Sonntag, 10. November ~
     
    Mr.   Boerhaave saß inmitten seiner Bande getreuer Raufbolde wie Lord Anaconda mit seinen Strumpfbandnattern. Ihr «Sonntagsgottesdienst» hatte unten schon begonnen, bevor ich aufgestanden war. Als ich herunterkam, um mir Wasser zum Rasieren zu holen, fand ich die Schenke überfüllt mit Teerjacken, die um die bedauernswerthen indischen Mädchen anstanden, welche Mr.   Walker in seinem improvisierten Bordell gefangenhält. (Rafael war nicht unter den Lüstlingen.)
    Ich entweihe meinen Sonntag nicht in einem Hurenhause. Henrys Abscheu entsprach dem meinen, u. so ließen wir das Frühstück ausfallen (das Mädchen war zweifellos zu Diensten anderer Art verpflichtet worden) u. brachen zur Kapelle auf, um dort, ohne unser Fasten gebrochen zu haben, am Gottesdienste theilzunehmen.
    Wir waren noch nicht zweihundert Meter weit gegangen, als mir mit Entsetzen einfiel, daß dieses Tagebuch auf dem Tische meines Zimmers in der Musket lag, einzusehen für jeden trunkenen Seemann, der sich dort hineinstahl. Besorgt um seine Sicherheit (u. um meine eigene, falls Mr.   Boerhaave es in die Hände bekäme), eilte ich zurück, um es an einem besseren Orte zu verstecken. Bei meiner Rückkehr empfing mich breites Grinsen, u. ich nahm an, ich sei jener «Teufel, von dem man spricht», doch als ich meine Thür öffnete, lernte ich den wahren Grund der Belustigung kennen: nämlich Mr.   Boerhaave, den ich in flagranti in meinem Bette ertappte, als er mit seinen bärigen Hinterbacken rittlings auf seinem Mohren-Goldschopf saß! Entschuldigte sich dieser holländische Teufel vielleicht? Mitnichten! Er übernahm sogleich selbst die Rolle des Gekränkten u. brüllte: «Macht, daß Ihr fortkommt, Mr.   Federschwanz! Oder ich breche Euch, beim Bl—e Christi, Euren elenden Yankee-Stecken entzwei!»
    Ich griff eilig mein Tagebuch u. polterte die Treppe hinunter, wo die dort versammelte Crawallgesellschaft weißer Wilder mich mit ausgelassenem Spotte empfing. Ich beschwerte mich bei Mr.   Walker. Ich entrichte für einen privaten Raum meine Miethe u. dürfe daher wohl erwarten, daß dieser auch in meiner Abwesenheit privat bleibe, doch dieser Halunke bot mir lediglich einen Nachlaß von einem Drittel für «einen viertelstündigen Ritt auf dem hübschesten Fohlen in meinem Stall!» an. Angewidert gab ich zurück, ich sei Ehemann u. Vater u. würde eher sterben, als wegen einer seiner pockennarbigen Huren von meiner Würde u. Wohlanständigkeit etwas abzustreichen! Walker schwor, er werde mir «die Augen decorieren», wenn ich seine lieben Töchter noch ein einziges Mal «Huren» schimpfte. Wäre bereits der Besitz eines Weibes u. eines Kindes für sich gesehen eine Tugend, höhnte eine zahnlose Strumpfbandnatter, «wohlan, Mr.   Ewing, dann bin ich zehnmal tugendhafter als Sie!». Eine unsichtbare Hand leerte einen Humpen Kaffernbier über mir. Ich entfernte mich, bevor das Gebräu durch ein handfesteres Geschoß ersetzt wurde.
    Die Glocke rief die Gottesfürchtigen von Ocean Bay, u. ich eilte, bemüht, die soeben in meiner Unterkunft bezeugten Widerwärthigkeiten zu vergessen, stehenden Fußes zur Kapelle, wo Henry auf mich wartete. Die Kapelle knarrte wie ein altes Faß, u. die Gemeinde zählte kaum mehr Mitglieder, als Finger an zwei Händen sind, doch kein Reisender hat je in einer Wüstenoase seinen Durst mit derselben Dankbarkeit gelöscht, mit der Henry u. ich an diesem Morgen unsere Andacht verrichteten. Der lutherische Gründer war schon vor zehn Wintern auf dem Gottesacker der Kapelle zur
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