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Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf
Autoren: John Katzenbach
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hatte es sich angewöhnt, zu den Bildern jeder Serie ihre eigene Geschichte zu erfinden. Sie ersetzte die Texte der Drehbuchautoren durch Worte, die ihrer Meinung nach besser angebracht waren. Für Sarah machte das die Geschichten wesentlich spannender und interessanter. Allerdings rechnete sie nicht damit, noch lange dazu in der Lage zu sein – die Big-Box-Filiale, in der sie den Apparat per Ratenzahlung gekauft hatte, würde ihn in den nächsten Wochen zurückverlangen. Dasselbe galt für die Möbel, ihren Wagen und vermutlich auch für das Haus.
    Ihre Worte schienen im Raum widerzuhallen – ein wenig unscharf wie verwackelte Fotos.
    Ach, Denise, ich liebe dich so …
    Ja, Doktor Smith, ich liebe dich auch. Schließ mich in die Arme und zaubere mich fort von hier …
    Auf dem Bildschirm hielt ein strammer, dunkelhaariger Bursche, der eher an ein männliches Model als einen Herzchirurgen erinnerte, eine Blondine umschlungen, die mit ihrer Superfigur so aussah, als hätte sie noch nie an einer schwereren Krankheit als einem abgebrochenen Fingernagel oder Schnupfen gelitten und außer zu ihren Brustimplantationen nie einen Arzt aufgesucht. Während sie die Lippen bewegten, steuerte Sarah weiter den Dialog bei.
    Ja, Liebling, das werde ich … allerdings sind deine Untersuchungsergebnisse vom Labor zurückgekommen, und … ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll, aber dir bleibt nicht mehr viel Zeit …
    Unsere Liebe ist stärker als jede Krankheit …
    Hah!, dachte Sarah. Träum weiter.
    Dann dachte sie: Ich werde die reizende Denise und den gutaussehenden Doktor Smith wohl aus meinem Leben streichen.
    Bei dem Gedanken stieß sie ein selbstzufriedenes Lachen aus. Mit Sicherheit war ihr Dialog wesentlich banaler und daher weitaus besser als das, was sie wirklich sagten.
    Als der Abspann über den Bildschirm lief, erhob sie sich und trat ans Fenster zur Straße. Eine Weile stand sie, die Arme über dem Kopf verschränkt, völlig entblößt da und hoffte fast, einer ihrer neugierigen Nachbarn oder – besser noch – der gelbe Schulbus von der Mittelschule käme mit Schülern beladen vorbei und sie könnte der pubertierenden Schar eine richtig gute Darbietung liefern. Eine Handvoll der Kids würden sie noch aus dem Klassenzimmer kennen. Fünftes Schuljahr. Mrs. Locksley.
    Sie schloss die Augen. Seht mich an, dachte sie. Worauf wartet ihr, verdammt, seht mich an!
    Sie merkte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen und ihr, ohne dass sie etwas dagegen machen konnte, heiß die Wangen herunterliefen. Das war sie gewöhnt.
    Bis zu dem Moment, in dem sie den Dienst quittierte, war Sarah eine beliebte Lehrerin gewesen. Falls sie einer ihrer ehemaligen Schüler heute so splitternackt am Fenster ihres Wohnzimmers sehen konnte, umso besser.
    Sie hatte vor etwas mehr als einem Jahr gekündigt, an einem der letzten Tage vor Beginn der Sommerferien. Es war ein Montag, zwei Tage nach jenem strahlend warmen Morgen, an dem ihr Mann ihre dreijährige Tochter zu einer der harmlosesten Samstagserledigungen mitgenommen hatte – einer Einkaufsfahrt in den Supermarkt, um Milch und Müsli zu kaufen – und nie zurückgekehrt war.
    Sarah wandte sich vom Fenster ab und starrte durchs Wohnzimmer zur Haustür, wo der Stapel Post auf dem Boden lag. Geh niemals an die Tür, dachte sie. Auch nicht, wenn es klingelt oder jemand dagegendonnert. Geh nicht ans Telefon, wenn der Anruf von einem Unbekannten kommt. Bleib einfach, wo du bist, denn es könnte ein junger Polizist sein, der seinen Smokey-Bear-Hut verlegen in der Hand hält, während er dir stockend die Nachricht überbringt. »Es hat einen Unfall gegeben, und es tut mir furchtbar leid, Ihnen das zu sagen, Mrs. Locksley …«
    Manchmal fragte sie sich, wieso ihr Leben an einem so strahlend schönen Tag zerstört worden war. Es hätte Graupel oder Schneematsch herrschen müssen, eine trübe, trostlose Mischung wie heute. Stattdessen hatte an einem klaren, blauen Himmel die Sonne geschienen, und so hatte sie, als sie an jenem Morgen zu Boden fiel, den Himmel über sich abgesucht nach einer noch so kleinen, vorüberziehenden Wolke, um den Blick an irgendetwas heften zu können.
    Sarah zuckte angesichts der Ungerechtigkeit die Achseln.
    Sie blickte aus dem Fenster. Niemand kam vorbei. Also keine kleine Nacktdarbietung. Sie strich sich mit den Händen durch die rote Mähne und überlegte, wann sie das letzte Mal geduscht oder das zerzauste Haar durchgekämmt hatte. Ein paar
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